KIEL. Anlässlich der heutigen (23.01.) Landtagsbefassung mit den Geschehnissen im Rahmen von Kinderkuren in der Vergangenheit betont Sozialminister Heiner Garg:
„Kinder sollten mit einer Kinderkur eigentlich Gutes erfahren – das war der Grund, warum von den 1950er bis in die 1980er Jahre in Deutschland schätzungsweise bis zu 350.000 Kinder jährlich Kinderkuren erhielten. In den allermeisten Fällen haben diese Kinder eine ärztliche Diagnose von Schulärzten oder anderen Ärztinnen oder Ärzten erhalten und sind anschließend für vier bis acht Wochen in Kur- und Erholungsheimen oder Heilstätten für Kinder untergebracht worden. Diese Einrichtungen bestanden bundesweit. Im Jahr 1963 etwa gab es 839 solcher Einrichtungen mit über 56.000 Plätzen, die ganzjährig betrieben wurden.
Die Initiative und Organisation zur Verschickung der Kinder ging vom öffentlichen Gesundheitsdienst, von den Schulärztinnen und -ärzten und Beratungsstellen der Wohlfahrtspflege aus. In der Regel handelte es sich damals um Kinder, die nach Meinung der Ärzte gesundheitliche Probleme hatten, weil sie zum Beispiel für über- oder untergewichtig befunden wurden oder von der damals weitverbreiteten Infektionskrankheit Tuberkulose betroffen waren, weshalb sie in Heilstätten behandelt wurden. Manche wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg unter schwierigen finanziellen und sozialen Umständen auf und kamen aus sozial benachteiligten Familien, sodass mit einer Verschickung gesundheitlichen Problemen vorgebeugt werden sollte.
Träger der Heime waren die Verbände der Wohlfahrtspflege, die Leistungsträger, die Bahn, die Post, große Firmen, Großstädte, private Träger und Stiftungen. Die Kosten wurden vor allem von der Sozialhilfe mit Zuschüssen der Krankenkassen, von der Rentenversicherung und von den Familien selbst übernommen.
Doch was zum Wohle der verschickten Kinder gedacht war, entpuppte sich für einige oder viele von ihnen – genaue Zahlen liegen uns noch nicht vor – als schlimmer Albtraum. Zum Teil sollen die Kinder damals vom betreuenden Personal in den Einrichtungen gedemütigt, erniedrigt und auch geschlagen worden sein. Methoden, die der sogenannten „schwarzen Pädagogik“ zuzuordnen sind. Dazu gehörte Zwang zum Aufessen auch von Erbrochenem oder ein Verbot, nachts die Toilette aufzusuchen. Hatten sie eingenässt, wurden sie nicht selten vor den anderen Kindern öffentlich gedemütigt. Von solchen schrecklichen Erfahrungen berichteten ehemalige Verschickungskinder gegenüber verschiedenen Medien.
Grundsätzlich waren Handlungen der „schwarzen Pädagogik“ weiter verbreitet als wir es uns heute vorstellen können. Das erklärt auch, warum die meisten Kinder wenig bis keine Unterstützung von ihren Eltern erhielten. Die Betroffenen haben ein berechtigtes und moralisch nachvollziehbares Interesse daran, dass dieses Unrecht, das ihnen widerfahren ist, aufgearbeitet wird. In Schleswig-Holstein sind Betroffene im November vergangenen Jahres auf der Insel Sylt zusammengekommen und haben ihren Wunsch nach Aufarbeitung deutlich gemacht. Die Landesregierung unterstützt dieses Vorhaben.
Zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine systematischen Zugänge zu diesem schwierigen Thema. Es liegen auch keine quantitativen oder qualitativen Erkenntnisse über Ausmaß und Intensität entsprechender Fälle vor. Wie groß die Anzahl der Betroffenen ist, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht einschätzen, da auch die Auslastung der Heime nicht genau bekannt ist. Mein Haus hat bereits Recherche- und Untersuchungsbitten an verschiedene Institutionen übermittelt. Eine Aktenrecherche beim Landesarchiv ist bisher noch ohne greifbares Ergebnis geblieben. Die Recherche dort wird zudem dadurch erschwert, dass ein Teil der Akten mit Schutzfristen versehen oder bestimmte Daten nur auf Antrag einzusehen sind. Außerdem teilte der Kreis Nordfriesland auf Anfrage mit, dass die Akten dort in den angefragten Zeiträumen wegen der Vernichtungsfristen nicht mehr vorhanden seien. Anfragen bei Krankenkassen und bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe brachten bislang keine verwertbaren Ergebnisse.
Ich habe das Thema auf der vergangenen Arbeits- und Sozialministerkonferenz mit meiner Kollegin aus Niedersachsen besprochen. Mein Haus arbeitet seitdem mit ihrem Haus zusammen. Die Recherchen in Niedersachsen haben die Aussagen der ehemaligen Verschickungskinder bestätigt. Es ist zudem festgestellt worden, dass Kinder aus allen Bundesländern in Kinderkureinrichtungen und Kinderheime verschickt wurden. Es ist damit notwendig und zielführend, eine länderübergreifende Aufarbeitung der Geschehnisse vorzubereiten. In der kommenden Februarsitzung der Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendpolitik (AGKJ) der Obersten Landes-Jugend- und Familienbehörden (AGJF) werden wir uns darüber und über Form und Inhalt einer länderübergreifenden Initiative abstimmen. Ich plane, das Thema in den länderübergreifenden Fachministerkonferenzen einzubringen. Das Ziel ist eine systematische Aufarbeitung, bei der wir erst ganz am Anfang stehen.“
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