Murat Turhan ist Deutschland nicht fremd. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte er mit seinen Eltern, zwei Brüdern und zwei Schwestern in Altenburg (Thüringen). Sein Vater sah dann eine Chance für die Gründung einer neuen Existenz in Iskenderun, einer Hafenstadt in der türkischen Provinz Hatay im Süden des Landes, rund 120 km südwestlich der anatolischen Millionenmetropole Gaziantep.
Iskenderun war sehr stark vom Erdbeben Anfang Februar 2023 betroffen. Zu 85 Prozent sei die Stadt zerstört worden, berichtet Murat Turhan. Staatliche Hilfe lief nur schleppend an, kritisierten viele Betroffene damals. Auch die ARD-Tagesschau berichtete darüber. Murat Turhan erinnert sich daran, dass viele Menschen tagelang im Freien leben und auf Zelte warten mussten.
„Das schätze ich so an Deutschland“; sagt er jetzt, einige Monate, nachdem er als Fachkraft nach Deutschland gekommen ist. „Jeder ist für sein Glück verantwortlich, aber in Notlagen funktionieren staatliche Hilfesysteme.“
In Iskenderun arbeitete Murat Turhan als Deutsch- und Englischlehrer an einer staatlich anerkannten Privatschule. Daneben betrieb er ein Sprachlerncafé. Unterrichtet hat er Erwachsene. Natürlich spreche man da auch hin und wieder über Politik. Seine Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat er dabei nie verheimlicht. Nun aber machte er sich Sorgen. Vermutlich gefielen nicht allen seinen Schüler*innen seine Positionen. Und er durfte nicht nur an die eigene Sicherheit denken. Schließlich trägt er auch die Verantwortung für seine Familie: seine Frau und die beiden Töchter, ein und 4 Jahre alt.
Im ersten Schritt besuchte er seinen Bruder in Hildesheim mit einem Touristenvisum. Das war natürlich zeitlich begrenzt und schloss eine Arbeitsaufnahme aus. Er verließ Deutschland also wieder, war aber mittlerweile entschlossen, mit seiner Familie zurückzukehren.
Und eine Perspektive dafür hatte er gefunden – über ein Stellenangebot im Internet: Der gemeinnützige Verein UTS (Umwelt Technik Soziales e. V.) mit Geschäftssitz in Rendsburg war auf der Suche nach Sprachlehrer*innen für das Beratungsnetzwerk Alle an Bord! – Perspektive Arbeitsmarkt für Geflüchtete, das im Januar 2022 gestartet wurde und bis Ende 2024 läuft. Das Beratungsnetzwerk ist Teil des Landesprogramms Arbeit 2021 – 2027, das aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds Plus und des Landes Schleswig-Holstein kofinanziert wird.
bei der Orientierung im deutschen Berufs- und Bildungssystem
bei der Suche nach geeigneter Arbeit, Ausbildung, Studium oder Weiterbildung
beim Abbau rechtlicher und sprachlicher Hürden
und bietet arbeitsmarktbezogene Sprachtrainings in kleinen Gruppen und Online-Formaten an
„Der Arbeitsmarkt für DaZ-Lehrkräfte ist leergefegt“, berichtet Projektleiterin Sabine Bleyer von UTS. Nach langem Warten meldeten sich lediglich zwei Bewerber aus Süddeutschland, die bestenfalls Online-Kurse hätten anbieten können.
Doch dann kam die Bewerbung von Murat Turhan aus der Türkei. Man verabredete sich zu einem ersten Gespräch in einer Videokonferenz. Fachlich war Sabine Bleyer und Sprachlehrer Murat Turhan schnell klar: Das passt. Also wandten sie sich am 6. April 2023 an die Zentralstelle für Fachkräfteeinwanderung im Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge um im beschleunigten Fachkräfteverfahren ein Arbeitsvisum für Murat Turhan zu bekommen Ziel war ein Start der Beschäftigung am 1. Juli.
„Bei der Zentralstelle arbeiteten alle Hand in Hand. Mit der Erfahrung und Kompetenz des Teams in der konnten Hürden wie ein nicht passendes Sprachzertifikat schnell aus dem Weg geräumt werden: Schon am 3. Mai konnte die Zentralstelle die Vorabzustimmung an den Arbeitgeber und die deutsche Botschaft in der Türkei übermitteln.
Vorteil für Murat Turhan war, dass sowohl sein Studienabschluss als auch die Universität, an der er ihn gemacht hat, in Anabin gelistet sind. „Anabin ist eine Datenbank der Kultusministerkonferenz für genau diese Daten“, erläutert dazu Alanah Selvan vom Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge. Als Expertin für Fachkräfteeinwanderung hatte sie die Federführung für das beschleunigte Fachkräfteverfahren von Murat Turhan. „Da Universität und Abschluss bereits anerkannt sind, kann die Eignung vorausgesetzt werden. Das spart die zeitaufwändige Zeugnisbewertung durch die Zentralstelle für ausländische Bildungsabschlüsse.“
Nach der Vorabzustimmung durch die Zentralstelle dauerte es nur drei Tage, bis Turhan sein Arbeitsvisum in der Deutschen Botschaft in Ankara abholen konnte.
Mitte Juli beantragte er dann den Familiennachzug für seine Frau und die beiden Töchter. Die Zentralstelle prüft in solchen Fällen, ob die zugewanderte Fachkraft den Lebensunterhalt für die Familie bestreiten kann, und lässt sich Dokumente – Ausweise, Heiratsurkunde, Geburtsurkunden – vorlegen. Hier zeigte sich der Zusammenhalt im Team: Eine Kollegin von Murat Turhan reduzierte ihr Stundenkontingent, damit er mehr arbeiten und so das erforderlich Gehalt bekommen konnte, das einen Familiennachzug rechtfertigt. Am 4. September konnte auch hier die Vorabzustimmung erteilt werden.
UTS unterstützt ihn seit seiner Ankunft nicht nur als Arbeitgeber. Der Verein hat auch die Rolle eines Relocation Managers übernommen: Eine Wohnung wurde gesucht, später eine Kita für die Kinder. Gerade am Anfang gab es Hilfe und Hinweise für Behördengänge. Mittlerweile findet Murat Turhan sich gut zurecht.
Und er liebt seine Arbeit. Das Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge hat ihn Ende 2023 in Lägerdorf im Kreis Steinburg besucht. Im Rathaus empfing er drei Ukrainerinnen zum Sprachtraining. Mit seiner fröhlichen und charmanten Art motiviert er seine Sprachschülerinnen und bringt sie oft zum Lachen. Erwachsenenbildung ist seine Passion. An diesem Tag war es ein Sprachtraining zur Integration in den Arbeitsmarkt. Online bietet er auch berufsspezifische Sprachkurse ab dem Sprachniveau A2 aufwärts an. Auch Einzelcoachings gehören zu seinem Angebot. Immer geht es darum, Geflüchtete darauf vorzubereiten, sich schnell im Arbeitsleben zurechtzufinden und wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen.
Sabine Bleyer zieht ein positives Fazit, weist aber auch auf eine Besonderheit hin: „Ich würde jederzeit wieder Fachkräfte aus Drittstaaten einstellen. Aber als Arbeitgeberin für die diese Personengruppe muss ich mir der besonderen Verantwortung bewusst sein.: Diese Menschen geben viel auf, um nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten. Ich sollte mir schon recht sicher sein, die richtige Fachkraft gefunden zu haben. Eine Entlassung in der Probezeit, weil es doch nicht passt, ist ein viel größerer Schritt als bei Mitarbeitenden, die ohnehin in Schleswig-Holstein leben.
Hinweis zur Verwendung von Cookies
Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. Weitere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den folgenden Link: