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Thema : Gesundheitsversorgung

Autoimmunerkrankungen - "Viele dieser Erkrankungen beginnen schleichend"

Warum genau das Immunsystem außer Kontrolle gerät, warum Autoimmunerkrankungen nicht heilbar sind und ob sie mit der Zeit zugenommen haben, erfahren Sie im Experteninterview mit dem Immunologen Professor Dietrich Kabelitz von der Universität Kiel.

Letzte Aktualisierung: 20.03.2015

Worin liegen die Ursachen für Autoimmunerkrankungen?

Die genauen Ursachen für eine Autoimmunerkrankung sind im Einzelfall noch unerkannt. Generell kann man sagen, dass die genetische Ausstattung eines Menschen mit eine wichtige Rolle spielt. Das bezieht sich auf zwei Bereiche: Zum einen trägt jeder Mensch so genannte Gewebeantigene (auch als humane Leukozyten-Antigene, HLA bezeichnet) in sich bzw. auf den kernhaltigen Körperzellen. Diese HLA -Antigene spielen für das ordentliche Funktionieren des Immunsystems eine entscheidende Rolle. Grundsätzlich können Immunzellen fremdes Antigen nur zusammen mit diesen körpereigenen HLA-Antigenen „erkennen“. Von diesen HLA-Merkmalen gibt es mehrere Untergruppen, und für jede Untergruppe erbt der Mensch von Vater und Mutter je ein „Allel“. Zusammengenommen ist das Muster der HLA-Gene bei jedem Menschen sehr individuell ausgeprägt. Bestimmte HLA-Merkmale sind mit einem viel häufigeren Vorkommen von Autoimmunerkrankungen verbunden; so haben zum Beispiel Menschen, die das HLA-Merkmal B27 tragen, eine 80 bis 90-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit, an der Autoimmunerkrankung Morbus Bechterew zu erkranken, als Personen, die das Merkmal nicht tragen. Des Weiteren können in vielen Genen, die für immunologisch wichtige Eiweiß-Moleküle zuständig sind, Mutationen vorkommen, die Veränderungen in der Eiweiß-Struktur oder -Funktion nach sich ziehen. Dabei ist es oft so, dass nicht ein einziges Gen zur Erkrankung führt, sondern vielmehr eine Vielzahl von Genen eine Rolle spielen kann und sich die klinisch feststellbare Erkrankung erst bei Auftreten mehrerer solcher Veränderungen ausprägt. Man spricht hier deshalb auch von „polygenen Erkrankungen“. Generell lässt sich sagen, dass eine genetische Prädisposition eine große Rolle spielt. Darüber hinaus können auch vorausgehende Infektionen als Auslöser für eine Autoimmunerkrankung in Frage kommen, so zum Beispiel beim rheumatischen Fieber (eine Herzmuskel-Erkrankung) nach vorausgehender Infektion mit bestimmten Bakterien. Weiterhin wird auch ein Zusammenhang zwischen der Infektion mit bestimmten Viren und der Entstehung einer Multiplen Sklerose diskutiert.

Welche Autoimmunerkrankungen sind am meisten verbreitet?

Häufige Autoimmunerkrankungen sind zum Beispiel die rheumatoide Arthritis, der Typ I Diabetes, die multiple Sklerose, der systemische Lupus Erythematodes (SLE oder auch die Schilddrüsenerkrankung Morbus Basedow. Insgesamt kennen wir etwa sechzig unterschiedliche Autoimmunerkrankungen, von denen sehr viele sehr selten vorkommen und dementsprechend auch häufig schwierig zu diagnostizieren sind.

Warum sind sie so schwer zu diagnostizieren?

Das Spektrum der Krankheitssymptome kann bei einzelnen Autoimmunerkrankungen sehr vielfältig und von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sein. Viele dieser Erkrankungen beginnen langsam und schleichend und mit wenig charakteristischen Symptomen. So müssen beispielsweise nach den Kriterien der amerikanischen Fachgesellschaft nur vier von insgesamt elf Symptomen bzw. Laborbefunden erfüllt sein, um mit hoher Wahrscheinlichkeit die Diagnose SLE zu stellen. Das illustriert schon, dass bei zwei Patienten mit völlig unterschiedlicher Symptomatik trotzdem die Autoimmunerkrankung SLE diagnostiziert werden kann. Insbesondere bei sehr selten vorkommenden Autoimmunerkrankungen denkt der Arzt vielleicht auch nicht daran, dass eine Autoimmunerkrankung die Ursache der klinischen Symptomatik sein kann. Schließlich muss nicht jeder pathologisch erhöhter Laborparameter Hinweis auf das Vorliegen einer Autoimmunerkrankung sein. So finden im Blut oder im Seren von etwa fünf bis zehn Prozent gesunder über 60-jähriger Probanden so genannter antinukleäre Autoantikörper ohne dass irgendeine klinisch manifeste Immunerkrankung vorliegt.

Warum sind Autoimmunerkrankungen nicht heilbar?

Zur Beantwortung dieser Frage ist es wichtig zu verstehen, wie das Immunsystem funktioniert. Das Immunsystem kann zwischen „selbst“ und „fremd“ unterscheiden und dadurch wirksam eine Infektion mit Krankheitserregern bekämpfen, ohne gleichzeitig körpereigene Zellen anzugreifen. Diese „Toleranz“ gegenüber körpereigenen Zellen und Antigenen ist ein hochkomplexer Vorgang, der kontinuierlich aktive immunregulatorische Mechanismen erfordert. Diese physiologische Immunkontrolle ist beim Auftreten einer Autoimmunerkrankung gestört, die normale Immuntoleranz funktioniert nicht ausreichend. Wünschenswertes Ziel einer kausalen Therapie von Autoimmunerkrankungen wäre es daher, die gestörte Selbsttoleranz wieder herzustellen. Hierzu wird von vielen Arbeitsgruppen weltweit intensiv Forschung betrieben, aber die klinische Umsetzung ist derzeit noch nicht gegeben. Andererseits muss man aber auch feststellen, dass sich die Therapie-Möglichkeiten für etliche Autoimmunerkrankungen in den letzten zehn Jahren dramatisch verbessert haben. Chronische Autoimmunerkrankungen sind in der Regel mit chronischen entzündlichen Vorgängen verbunden; in solchen Fällen ist die Therapie mit modernen Medikamenten („Biologicals“), welche z. B. Entzündungsbotenstoffe neutralisieren, sehr erfolgreich (z. B. TNF-Blocker). Weiterhin können durch Biologicals z. B. auch die Autoantikörper-produzierenden Zellen im Patienten ausgeschaltet werden.

Wie können Selbsthilfegruppe oder das soziale Umfeld helfen?

Selbsthilfegruppen spielen für viele betroffene Patientinnen und Patienten eine große Rolle. Hier können in der Gemeinschaft der Betroffenen sehr sinnvoll Informationen ausgetauscht werden, die für das tägliche Leben mit der Autoimmunerkrankung wichtig sind. Selbstverständlich ist auch das soziale Umfeld gefragt, den betroffenen Patientinnen und Patienten ein möglichst normales Lebensumfeld zu ermöglichen, z. B. im Hinblick auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen.

Haben Autoimmunerkrankungen im Laufe der Zeit zugenommen?

Insgesamt gehen wir davon aus, dass bis zu fünf Prozent der Bevölkerung von einer Autoimmunerkrankung betroffen sind. Möglicherweise spielt die immer zunehmende Exposition gegenüber Umweltreizen und Umweltstoffen eine Rolle bei der Zunahme von Autoimmunerkrankungen. Allerdings muss man auch sagen, dass die diagnostischen Möglichkeiten immer besser geworden sind und allein deswegen auch mehr Autoimmunerkrankungen festgestellt werden können als früher. Trotzdem scheinen manche Erkrankungen relativ „neu“ zu sein: So war z. B. die entzündliche Darmerkrankung Morbus Crohn bis in die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts weitgehend unbekannt und hat sich erst nach dem 2. Weltkrieg deutlich zunehmend manifestiert. Auch das Auftreten von Typ I Diabetes und Multiple Sklerose haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen.

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