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Thema : Gesundheitsversorgung

ADHS - „Kinder, Eltern und Lehrer müssen zusammenarbeiten“

Frau Dr. Gerber-von Müller ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und seit 2003 Teamleiterin der Ambulanz für Verhaltensprävention in Familien (ViFa) am UKSH, Campus Kiel. Dort behandelt sie chronisch kranke Kinder und Jugendliche. Ein Großteil ihrer jungen Patientinnen und Patienten leidet unter ADHS. Seit 2010 ist sie zudem in Kiel für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (VT) zugelassen und in eigener Praxis tätig.

Letzte Aktualisierung: 23.03.2015

Frau Dr. Gerber-von Müller, Sie arbeiten seit zehn Jahren als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit dem Schwerpunkt ADHS. Was hat Sie zu diesem Spezialgebiet geführt?

Im Jahr 2000 initiierte das UKSH gemeinsam mit der AOK ein Projekt für chronisch kranke Kinder und Jugendliche an dem ich mitgearbeitet habe. Uns war damals noch nicht klar, was auf uns zukommen würde: Wir wurden sprichwörtlich überrannt von verunsicherten Eltern mit Kindern, die an ADHS erkrankt waren. Dieser große Bedarf und auch die Unsicherheit und Verwirrung bei Eltern und Kindern hat mich zu meinem heutigen beruflichen Schwerpunkt ADHS geführt. Und dieser Bedarf ist in den letzten Jahren noch gewachsen. Ich bin froh, als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin etwas für die betroffenen Familien tun zu können.

Was können Eltern tun, wenn sie ADHS bei ihrem Kind vermuten?

Eltern informieren sich häufig als allererstes im Internet oder bei anderen Eltern. Das ist zwar naheliegend, birgt aber eine große Gefahr: Um kaum eine Erkrankung ranken sich so viele Mythen. Das Resultat ist meist, dass die Eltern unsicherer sind als vorher und regelrecht Angst vor der Diagnose ADHS haben. Dabei kann man mit ADHS gut leben, man muss es nur umfassend diagnostizieren und konsequent behandeln.
Mein Rat ist daher, wenn Sie ADHS bei Ihrem Kind vermuten, kontaktieren Sie Ihren Kinderarzt, der das Kind im besten Fall schon länger kennt oder vereinbaren Sie einen Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater oder -psychotherapeuten für ein erstes Gespräch. Entscheidend ist, dass eine umfassende ADHS-Diagnostik mit anschließendem Behandlungsangebot erfolgt.

Welche Auswirkungen hat die Diagnose ADHS auf die Beteiligten? Was sind Ihre Erfahrungen?

Die Diagnose ADHS verursacht bei Eltern wie auch bei den Kindern häufig Selbstzweifel und Schuldgefühle. Besonders bei den Eltern dominieren Sorgen um die persönliche und schulische Entwicklung ihres Kindes. Bei manchen Eltern führt die Diagnosestellung aber auch zu einer Entlastung, weil sie die Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes nun besser verstehen können. Voraussetzung dafür ist eine umfassende Beratung über Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von ADHS. Da ADHS eine polygenetisch bedingte Erkrankung ist, muss in der Beratung der Eltern deutlich gemacht werden, dass ADHS zwar nicht heilbar aber gut steuerbar ist.

Was müssen Eltern, Lehrer und das übrige soziale Umfeld beachten? Wie soll man sich verhalten?

Zunächst einmal sollten alle Beteiligten die Ursachen und Auswirkungen der Erkrankung verstehen. ADHS-Kinder zeigen deutliche Einschränkungen in verschiedenen Bereichen der Aufmerksamkeit, wie zum Beispiel: Hinhören, Wahrnehmen und Wiedergeben. Sie sind motorisch unruhig und impulsiv, leicht abgelenkt und können sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren. Die Umgebung für Kinder mit ADHS sollte daher möglichst reizarm, also frei von unerwünschter Ablenkung sein. Da bei ADHS eine Störung des Kurzzeitgedächtnisses vorliegt, benötigen diese Kinder zudem eine klare Ansprache mit fester Stimme und kurzen sachlichen Sätzen. Auch feste Regeln, die konsequent eingehalten werden, sind wichtig. Wenn ein Lehrer Hausaufgaben aufgibt, muss er sie am nächsten Tag konsequent einfordern und kontrollieren. Besonders für diese Kinder ist das Lob für erwünschtes Verhalten von zentraler Bedeutung. Wegen der oft negativen Haltung des sozialen Umfelds gegenüber dem „lauten und impulsiven Kind“ leiden die Betroffenen häufig unter mangelndem Selbstwertgefühl, sind einsam oder isoliert. Lob stärkt das Selbstbewusstsein der Kinder.
Für Lehrkräfte gibt es inzwischen viele Leitlinien und gute Literatur. Die Broschüre "ADHS ... was bedeutet das?" von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet auf jeden Fall einen guten Einstieg in das Thema.

Zur Broschüre "ADHS ... was bedeutet das?"

Die Medikation bei ADHS ist ja durchaus umstritten. Wie stehen Sie aus Psychotherapeutensicht dazu?

Aus meiner Sicht kann eine Medikation bei ADHS durchaus notwendig sein. Kinder, bei denen die alleinige Verhaltenstherapie nicht zu einer Verbesserung der Symptomatik führt, sollten unterstützend medikamentös eingestellt werden. Grundsätzlich konnte in zahlreichen Studien die Befürchtung vieler Eltern, dass Methylphenidat bei ADHS süchtig macht, widerlegt werden. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass die Medikamente lediglich eine symptomunterdrückende Wirkung haben. Aus diesem Grund ist aus meiner Sicht immer eine verhaltenstherapeutische Intervention angezeigt. Diese Therapien sollten niemals nur mit dem Kind stattfinden. Eltern und Lehrer müssen zur Unterstützung des Kindes intensiv mit dem Therapeuten zusammenarbeiten.

Was sind die Herausforderungen und Chancen der nächsten Jahre in der ADHS-Therapie?

Eine der größten gesundheitspolitischen Herausforderungen wird die ausreichende und zeitnahe psychotherapeutische Versorgung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher sein. In Deutschland leiden nach neueren Untersuchungen mehr als 3,9 Prozent aller Kinder unter ADHS. Zurzeit sind Wartezeiten auf einen Therapieplatz bis zu einem Jahr nicht selten. Das darf so nicht bleiben!
Zudem wünsche ich mir, dass die Krankenkassen wissenschaftlich erprobte verhaltenstherapeutische Maßnahmen finanziell unterstützen. So gibt es beispielsweise mehrtägige Feriencamps, die intensives ADHS-Training mit sozialem Kompetenztraining kombinieren. Die Krankenkassen könnten den Familien eine Teilnahme an solchen verhaltenstherapeutischen Maßnahmen ermöglichen, deren hohe klinische Wirksamkeit wir in eigenen Studien nachweisen konnten. Hier kann man in Schleswig-Holstein noch viel bewirken.

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