Urteil SG SG Itzehoe AZ: S 30 U 99/14 (PDF, 472KB, Datei ist barrierefrei)
In der im Siebten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VII) geregelten gesetzlichen Unfallversicherung ist im Wesentlichen der Schutz von Werktätigen im Falle eines Arbeitsunfalls oder des Auftretens einer Berufskrankheit ausgestaltet. Große Bedeutung kommt den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung insbesondere in Form von Entgeltersatzleistungen zu. Neben kurzfristigen Ersatzleistungen, die konkrete Einkommenseinbußen ausgleichen, spielen längerfristige und dauerhafte Ersatzleistungen eine wichtige Rolle. Solche Ersatzleistungen werden in Form der Verletztenrente geleistet. Leistungsträger dieser Rente ist die zuständige Berufsgenossenschaft bzw. bei Landwirten die „Sozialversicherung für Landwirte, Forsten und Gartenbau“ (SVLFG). Bezugspunkt ist dabei nicht mehr der tatsächliche, individuelle Einkommensverlust, sondern der durch die Folgen eines Versicherungsfalls eingetretene Nachteil im beruflichen Fortkommen. Darauf besteht ein Anspruch, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) einen bestimmten Mindestwert übersteigt und über 26 Wochen hinaus andauert. Wenn der betroffene Versicherte seine Erwerbsfähigkeit vollständig verliert, wird eine Vollrente in Höhe von zwei Dritteln des Jahresarbeitsverdienstes geleistet. Ist die Erwerbsfähigkeit – wie meistens – nicht vollständig entfallen, sondern durch den Versicherungsfall nur gemindert, wird eine Teilrente gewährt. Deren Höhe entspricht einem prozentualen Anteil an der Vollrente, der sich danach bemisst, zu welchem Prozentsatz die Erwerbsfähigkeit im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit eines Gesunden gemindert ist.
Damit ist die Höhe der MdE für die Höhe der Verletztenrente von zentraler Bedeutung. Bei der Bestimmung der MdE handelt es sich um eine juristische Aufgabe, die dem Sozialgericht zufällt. Weil dabei aber das konkrete Ausmaß der Unfallfolgen und sodann deren Auswirkung auf die Erwerbsfähigkeit des betroffenen Versicherten einzuschätzen sind, ist medizinische Expertise bei der Bestimmung der MdE bzw. bei der Beantwortung der sich in diesem Zusammenhang stellenden medizinischen Fragen für die Sozialgerichte unverzichtbar. Das Sozialgericht ist daher in Prozessen, in denen sich ein Versicherter mit dem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung um die Höhe seiner Rente streitet, in der Regel auf die Einholung eines sozialmedizinischen Sachverständigengutachtens angewiesen, um eine unabhängige Einschätzung der Unfallfolgen zu erhalten. Dafür bildet der vorliegende Fall ein typisches Beispiel.
Der Fall
Der Kläger ist Landwirt und war im Jahr 2011 mit seinem linken Arm in einen durch einen Traktor angetriebenen Mähbalken geraten, wodurch der linke Unterarm abgetrennt wurde und notfallmedizinisch wieder replantiert (also wieder „angenäht“) werden musste. Die beklagte SVLFG gewährte dem Kläger ab September 2012 vorläufig eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 Prozent. Grundlage dieser Einschätzung der MdE war ein Gutachten der den Kläger im berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus behandelt habenden Ärzte. Bereits ein Jahr nach Beginn der vorläufigen Rentenzahlung bat der Träger der Unfallversicherung diese Ärzte um eine neuerliche Einschätzung der MdE des Klägers. Die Ärzte des Unfallkrankenhauses äußerten sich in ihrem Gutachten dahingehend, dass bei dem Kläger insgesamt elf voneinander zu unterscheidende Unfallfolgen dauerhaft fortbestehen würden und nach wie vor eine MdE von 30 Prozent gegeben sei. Dieses Gutachten legte die SVLFG ihrem Beratungsarzt zur Überprüfung vor, der daraufhin zu der Einschätzung gelangte, dass das Gutachten der Krankenhausärzte fehlerhaft sei. Tatsächlich seien bei dem Kläger lediglich noch fünf verschiedene Unfallfolgen festzustellen, die im Ergebnis eine MdE von lediglich 20 Prozent rechtfertigten. Die SVLFG erklärte dem Kläger daraufhin in einem Bescheid aus Dezember 2013, mit dem der Unfallversicherungsträger die dem Kläger gewährte Rente zum Ablauf des Jahres 2013 entzog, dass die bei ihm verbliebenen Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund des Arbeitsunfalls nur noch ein geringes Ausmaß aufwiesen, das nicht mehr zu einer Rente berechtige. Gegen diese Entscheidung rief der Kläger – nach (für ihn) erfolgloser Durchführung des nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens – das Sozialgericht an.
Die Entscheidung
Das Sozialgericht hat zu der Frage, in welcher Höhe bei dem Kläger auch über das Jahr 2013 hinaus eine MdE infolge seines Arbeitsunfalls verblieben sei, ein Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Orthopädie und Chirurgie eingeholt, die im Ergebnis die Einschätzung der Ärzte des Unfallkrankenhauses – und mithin eine bei dem Kläger weiterhin gegebene MdE von 30 Prozent – bestätigte. Dabei hat das Sozialgericht nicht nur die Darlegungen der durch das Gericht beauftragten Sachverständigen berücksichtigt, sondern diese auch mit den Ausführungen der Ärzte des berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses in ihrem zweiten Rentengutachten und auch mit den Ausführungen des Beratungsarztes des SVLFG abgeglichen, um zu einer rechtlich belastbaren Bewertung der MdE des Klägers im Zeitraum ab dem 1. Januar 2014 zu gelangen. Die Schwierigkeit bestand für das Gericht dabei darin, den konkret gegebenen Unfallfolgen eine bestimmte MdE beizumessen. Schwierig war dies deshalb, weil die nach wie vor fortbestehenden Funktionseinschränkungen des Klägers (Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit der linken Hand, weil der Daumen nicht mehr regelrecht gestreckt und gekrümmt werden kann, wodurch die Greiffunktion aber auch die grobe Kraft vermindert sind; schmerzhafte Einschränkungen der Drehfähigkeit sowohl des linken Handgelenks als auch des linken Unterarms) sich in der speziellen, hier gegebenen Kombination nicht in den sogenannten MdE-Erfahrungswerten wiederfinden lassen. Das Sozialgericht hat die MdE deshalb unter Rückgriff auf vergleichbare Funktionseinschränkungen, die in den MdE-Erfahrungs-werten aufgeführt sind und denen dort eine bestimmte MdE beigemessen ist, bestimmt. Dabei ist es dem Vorschlag der gerichtlich bestellten Sachverständigen zur Höhe der festzusetzenden MdE gefolgt. Diese hatte hinsichtlich der MdE-Bestimmung auf die in den MdE-Erfahrungswerten benannten und mit einer MdE von 30 Prozent bewerteten Versteifung des Unterarms bzw. der Versteifung des Handgelenks abgestellt. Das Gericht hat dabei betont, dass bei dem Kläger zwar einerseits weder der Unterarm noch das Handgelenk (komplett) versteift seien – sondern lediglich die Drehfähigkeit jeweils hochgradig eingeschränkt sei –, dass aber andererseits zu diesen Bewegungseinschränkungen auch noch eine Beeinträchtigung der Greiffunktion und der groben Kraft der linken Hand trete. Diese Funktionsbeeinträchtigungen verstärkten sich im Hinblick auf die Gebrauchsfähigkeit des linken Arms des Klägers gegenseitig nachteilig, weshalb er im Ergebnis nicht weniger stark eingeschränkt sei, als wenn ausschließlich das linke Handgelenk – komplett – versteift oder die Drehfähigkeit des Unterarms – komplett – aufgehoben wäre. Deshalb sei im Ergebnis die Feststellung einer MdE von 30 Prozent zutreffend. Das Sozialgericht hat den streitbefangenen Bescheid des Unfallversicherungsträgers daher aufgehoben und diesen dazu verurteilt, dem Kläger auch für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2014 dauerhaft eine Verletztenrente unter Zugrundelegung einer MdE von 30 Prozent zu gewähren.
Das Recht
Nach § 56 Abs. 1 SGB VII erfordert der Anspruch auf Verletztenrente grundsätzlich eine MdE von mindestens 20 Prozent, für Landwirte – und um einen solchen handelt es sich ja bei dem Kläger im vorliegenden Fall – trifft § 80a SGB VII jedoch die Sonderregelung, dass eine Rente erst dann gewährt wird, wenn sich die MdE wenigstens auf 30 Prozent beläuft. Zur Feststellung der MdE trifft das Gesetz in § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII lediglich die recht allgemein gehaltene Bestimmung, dass sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens richtet. Im Laufe der Zeit haben sich für die Bewertung der MdE Erfahrungswerte gebildet, aus denen sogenannte MdE-Tabellen (auch Renten-Tabellen genannt) gebildet wurden. Diese sollen bei vergleichbaren Körperschäden eine Gleichbehandlung der Verletzten ermöglichen. In der Rechtspraxis kommt den MdE-Tabellen eine wichtige Bedeutung zu. Nach dem Bundessozialgericht (BSG) stellen die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte allgemeine Erfahrungssätze dar und bilden in der Regel die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet. Den Erfahrungswerten der gesetzlichen Unfallversicherung zur Feststellung und Bewertung der MdE von Unfallfolgen kommt auch die Funktion zu, die Gleichmäßigkeit und Kontinuität der Entschädigungspraxis zu gewährleisten (BSG, Urteil vom 18. März 2003, B 2 U 31/02 R; Urteil vom 19. Dezember 2013, B 2 U 17/12 R). Nach der Rechtsprechung darf aber eine schematische Anwendung dieser Erfahrungswerte nicht erfolgen. Abzustellen ist immer auf die Gegebenheiten des Einzelfalls, weshalb die MdE ist in der Regel durch ein ärztliches Gutachten festzustellen ist.
Dies ist Ausfluss des im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes, der besagt, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht und an den Vortrag der Prozessbeteiligten nicht gebunden ist (§ 103 SGG). In § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG ist ausdrücklich geregelt, dass das Gericht die Begutachtung durch Sachverständige anordnen kann. Die Auswahl des Sachverständigen durch das Gericht erfolgt nach freiem Ermessen, wobei es aber natürlich gehalten ist, einen fachkompetenten Gutachter zu beauftragen. So wird für die Begutachtung gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die in einem bestimmten medizinischen Fachgebiet wurzeln (hier z.B. im Bereich der Chirurgie), in der Regel ein Gutachter ausgewählt werden, der über besondere Qualifikationen bzw. Fachkenntnisse auf eben diesem Gebiet verfügt (z.B. ein Facharzt bzw. eine Fachärztin für Chirurgie; so ist das Sozialgericht auch vorliegend verfahren). Dem Versicherten – in der Regel dem Kläger im sozialgerichtlichen Verfahren – obliegt es, an der Beweisaufnahme mitzuwirken. Das heißt konkret, dass er gehalten ist, sich für eine persönliche Untersuchung durch den Sachverständigen zur Verfügung zu stellen, falls das Gericht eine solche Untersuchung angeordnet haben sollte. Zu einer Teilnahme an einer solchen Untersuchung kann ein Kläger aber nicht gezwungen werden. Eine Weigerung an einer Teilnahme wird von dem Sozialgericht aber zu Lasten des Klägers zu werten sein, wenn sich bestimmte medizinische Anspruchsvoraussetzungen nicht feststellen lassen, weil der Kläger die Durchführung einer persönlichen Untersuchung verweigert hat. Ist der Versicherte mit dem Ergebnis eines von dem Gericht eingeholten Sachverständigengutachtens nicht einverstanden, besteht für ihn – ein Mal im Prozess – die Möglichkeit, ein weiteres Gutachten von einem durch den Versicherten bestimmten Sachverständigen einzuholen (§ 109 SGG). Für die Einholung eines solchen Gutachtens hat der Versicherte – anders als bei der von Amts wegen erfolgenden Gutachteneinholung durch das Gericht – aber zunächst einen Kostenvorschuss zu leisten.