Urteil SG Lübeck AZ: S 45 R 375/17 (PDF, 352KB, Datei ist barrierefrei)
Seit 1957 die europäische Integration mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Gang gesetzt wurde, hat sie sich stetig vertieft. Aus der Nachfolgerin der EWG, der Europäischen Gemeinschaft (EG), wurde 1992 die Europäische Union (EU), die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten vertiefte sich auf nahezu sämtlichen Politik- und Gesellschaftsfeldern, die Grenzen der Nationalstaaten verloren zunehmend an Bedeutung. Eine der wesentlichen Grundfreiheiten, die vom europäischen Gemeinschaftsrecht garantiert werden, ist die der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie ist Kernbestandteil des für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich geltenden Unionsrechts und stellt gemeinsam mit der Niederlassungsfreiheit eine besondere Form der Personenfreizügigkeit dar. Jeder Unionsbürger hat hiernach die Möglichkeit, ungeachtet seines Wohnortes in jedem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, unter den gleichen Voraussetzungen eine Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben wie ein Angehöriger dieses Staates. Mittlerweile ist es für viele EU-Bürger zur selbstverständlichen Normalität geworden, in einem anderen europäischen Land als ihrem Herkunftsland – zumindest eine Zeitlang – zu wohnen und zu arbeiten. Dies berührt die sozialen Sicherungssysteme sowohl des Herkunftsstaates als auch des Staates, in dem der EU-Bürger zeitweilig lebt und arbeitet. Schon früh wurde an diesem Punkt ein Bedarf für koordinierende Rechtsregeln deutlich, um die sozialen Sicherungssysteme – allen voran die Alterssicherungssysteme – der Mitgliedstaaten im Interesse der im Ausland arbeitenden EU-Bürger aufeinander abzustimmen. Bereits zu Zeiten des Bestehens der EWG wurden dazu auf europäischer Ebene Verordnungen geschaffen, die das Ziel verfolgten, dass sich für die Versicherten und deren Familienangehörige durch den Besitz einer fremden Staatsangehörigkeit, durch den Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat oder durch die Beschäftigung in mehreren Staaten keine rentenrechtlichen Nachteile ergeben dürfen.
Eine – nunmehr – von der EU erlassene Verordnung besitzt dabei unmittelbare Gültigkeit in den Mitgliedstaaten und ist dort von allen staatlichen Gewalten zu beachten und anzuwenden – also auch von den nationalstaatlichen Gerichten. Eine wesentliche Aufgabe dieser Verordnungen ist die Zuordnung der Zeiten, namentlich, ob der Rentenversicherungsträger im jetzigen Wohnsitzstaat (hier: Schweden) oder der Rentenversicherungsträger des Staates, in dem die Beitragszeiten absolviert wurden (hier: Deutschland) die Zeiten berücksichtigen muss. Es stellt sich daher für Versicherte, die in mehreren Mitgliedsländern der EU erwerbstätig waren, häufig die Frage: Der Rentenversicherungsträger welchen Staates ist für die Rentenzahlung zuständig? Diese Frage soll durch die auf europäischer Ebene geschaffenen koordinierenden Regelungen beantwortet werden. So kann auch im Rahmen einer rentenrechtlichen Auseinandersetzung vor einem Sozialgericht in Deutschland einer EU-Verordnung die entscheidende rechtliche Bedeutung zukommen, wie sich am nachfolgend dargestellten Fall beispielhaft zeigt.
Der Fall
Die 1948 geborene Klägerin arbeitete nur für einen kurzen Zeitraum – zwischen August 1971 und Mai 1972 – in Deutschland und verzog dann nach Schweden. Dort verbrachte die Klägerin ihr gesamtes weiteres Erwerbsleben und wohnt auch heute noch in Schweden. Vom schwedischen Rentenversicherungsträger erhält die Klägerin eine Altersrente. 2016 stellte die Klägerin bei der Deutschen Rentenversicherung, der Beklagten, einen Antrag auf Regelaltersrente, der abgelehnt wurde. Dagegen erhob die Klägerin am Widerspruch, mit welchem sie vortrug, ein Recht auf eine deutsche Rente zu haben, weil sie in den Jahren 1971 und 1972 in Deutschland gearbeitet habe. Der beklagte Rentenversicherungsträger wies den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, dass die erforderliche Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt sei, da auf diese lediglich die in Deutschland zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten vom 3. August 1971 bis zum 19. Mai 1972, mithin zehn Monate, anrechenbar seien. Eine Zusammenrechnung mit schwedischen Zeiten, die zu einer Erfüllung der Wartezeit führen würde, scheide aus, da hierfür der Umfang der Zeiten mehr als ein Jahr in Deutschland betragen müsse. Die in Deutschland zurückgelegten Zeiten seien vielmehr von dem schwedischen Rentenversicherungsträger zu berücksichtigen. Dagegen erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Lübeck.
Die Entscheidung
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen und dabei zunächst dargelegt, dass die Klägerin aufgrund ihrer geringen Beschäftigungsdauer in Deutschland keinen Altersrentenanspruch nach deutschem Recht erworben habe. Denn Voraussetzung des Anspruchs auf Regelaltersrente nach § 235 Abs. 1 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei für Versicherte, die vor dem 1. Januar 1964 geboren sind, dass diese – erstens – die Regelaltersgrenze erreicht und – zweitens – die allgemeine Wartezeit erfüllt hätten. Die Klägerin habe zwar die Regelaltersgrenze, die nach § 235 Abs. 1 Satz 2 SGB VI frühestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres erreicht sei, überschritten. Der geltend gemachte Rentenanspruch scheitere jedoch daran, dass die Klägerin die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt habe. Diese betrage für die Regelaltersrente nach § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI fünf Jahre. Die Klägerin habe jedoch lediglich zehn Monate an Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt.
Sodann hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Klägerin auch aus den europäischen Vorschriften zur Harmonisierung der Sozialsysteme keinen Rentenanspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger herleiten könne. Zwar habe nach Art. 52 Abs. 1b der insoweit einschlägigen EU-Verordnung Nr. 883/2004 ein Leistungsträger Leistungen für Zeiten zu gewähren, die nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden seien, und habe bei Eintritt des Versicherungsfalles auch Zeiten zu berücksichtigen, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt wurden. Eine Zusammenrechnung der rentenrelevanten Zeiten, die die Klägerin während ihres Erwerbslebens in Schweden erfüllt habe, mit den in Deutschland gearbeiteten zehn Monaten an Pflichtbeitragszeit könne hier aber gleichwohl nicht erfolgen. Denn gemäß Art. 57 Abs. 1 der EU-Verordnung Nr. 883/2004 finde eine solche Zusammenrechnung von rentenrechtlichen Zeiten nicht statt, wenn Versicherungszeiten von weniger als einem Jahr in dem Mitgliedsstaat, von dem die Sozialleistung (hier also die Altersrente) begehrt wird, zurückgelegt worden seien und allein aufgrund dieser Zeiten kein Leistungsanspruch nach den Vorschriften dieses Mitgliedsstaats erworben wurde. Genau dieser Fall sei vorliegend gegeben: Die von der Klägerin in Deutschland zurückgelegten Zeiten umfassten einen Zeitraum von nur zehn Monaten und begründeten – für sich gesehen – keinen Anspruch auf eine Regelaltersrente nach deutschen Rentenversicherungsrecht (weil die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt sei), so dass die Beklagte nicht gehalten gewesen sei, auch die in Schweden zurückgelegten Zeiten zu berücksichtigen. Vielmehr seien nach 57 Abs. 2 der EU-Verordnung Nr. 883/2004 die in Deutschland zurückgelegten Zeiten von dem schwedischen Versicherungsträger bei der Berechnung der Rente zu berücksichtigen.
Das Recht
Dass der Klägerin allein nach dem in Deutschland geltenden Rentenrecht, das im Sechsten Buch des Sozialgesetzbuchs kodifiziert ist, der von ihr geltend gemachte Anspruch auf Altersrente aufgrund der von ihr in Deutschland zurückgelegten Arbeitszeit (Pflichtbeitragszeit im Sinne der §§ 55 Abs. 1 Satz 1, 157, 161 Abs. 1, 162 Nr. 1 SGB VI) nicht zustehen kann, zeigt bereits ein Blick in die §§ 35, 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, wonach ein Anspruch auf Regelaltersrente erst nach Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren entsteht.
Europarechtlich gilt: Die zum 1. Mai 2010 in Kraft getretene EU-Verordnung 883/2004 beinhaltet in ihrem Art. 52 den Grundsatz der Zusammenrechnung von in unterschiedlichen Mitgliedstaaten zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten und verwirklicht auf diese Weise das gemeinschaftsrechtliche Ziel, dass Arbeitnehmer, die in verschiedenen Ländern erwerbstätig waren und daher in verschiedenen sozialen Sicherungssystemen versichert sind, aufgrund dieser Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten keine rentenrechtlichen Nachteile erleiden sollen. Dieses Ziel hat – noch zu der „Vorgänger-Verordnung“ EG-VO Nr. 1408/71 – auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner Entscheidung vom 3. März 2011 (Aktenzeichen C-440/09) postuliert; danach gilt der europarechtliche Grundsatz, dass Arbeitnehmer, die ausschließlich im Inland gearbeitet haben, und solche, die im Inland und im Ausland gearbeitet haben, gleich zu behandeln sind. Dies ist nach dem Urteil des EuGH bei der Berechnung der erforderlichen Mindestzeit für den Erwerb einer Altersrente zu beachten, weshalb die im Ausland erworbenen Versicherungszeiten grundsätzlich angerechnet werden müssen. Dieser Grundsatz findet auch im vorliegenden Fall Anwendung, auch wenn der von der Klägerin verfolgte Rentenanspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger nicht besteht. Denn die zehnmonatige Beschäftigung der Klägerin in Deutschland ist nach Art. 57 Abs. 2 der EU-Verordnung 883/2004 von dem schwedischen Rententräger bei der Berechnung des (schwedischen) Altersrentenanspruchs der Klägerin zu berücksichtigen, diese Zeit geht der Klägerin somit nicht „verloren“. Ein Anspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger kann jedoch bei einer Beitragszeit von weniger als einem Jahr (weil aufgrund dieser kurzen Beitragszeit ein deutscher Rentenanspruch, der – für die Altersrente – eine Wartezeit von fünf Jahren fordert, nicht in Betracht kommt) nach Art. 57 Abs. 1 der EU-Verordnung 883/2004 nicht entstehen. Diese europarechtlichen Vorgaben hatte das Sozialgericht bei seiner Entscheidungsfindung unmittelbar anzuwenden. Die konkrete Staatsangehörigkeit der Klägerin spielte im Übrigen keine Rolle, wichtig war nur, dass es sich um eine Unionsbürgerin handelte und die Beitragszeiten ebenfalls in einem EU-Land absolviert wurden. Es sind also auch Konstellationen mit drei und mehr beteiligten Staaten denkbar.