Az.: S 49 P 93/15
Wird ein Mensch pflegebedürftig, besteht manchmal Streit darüber, welche Tätigkeiten er noch alleine ausführen kann und bei welchen er Hilfe benötigt. Auch muss in jedem Einzelfall entschieden werden, welche Tätigkeiten überhaupt als notwendig und angemessen angesehen werden.
DER FALL
Eine junge Frau von 21 Jahren geht eines Abends mit ihrem Hund an einer Landstraße spazieren. Ein Mann fährt mit seinem Golf die Straße entlang, will wohl einem Tier auf der Fahrbahn ausweichen, weicht zur Seite aus und erfasst die am Fahrbahnrand gehende Frau. Sie wird vom Auto weggeschleudert und sehr schwer verletzt. Sie liegt zwei Monate im Koma.
Nach vielen Monaten im Krankenhaus erholt sie sich langsam. Eine starke körperliche Behinderung bleibt jedoch. Die linke Körperhälfte ist teilweise gelähmt, sie leidet unter Spastiken und kann sich nur noch mithilfe eines Rollators fortbewegen.
Die Frau bezieht eine ebenerdige Wohnung, in der sie allein mit ihrem Hund lebt. Sie lernt, trotz ihrer Behinderung mit den meisten Dingen des täglichen Lebens zurecht zu kommen. Zudem erhält sie Hilfe von Familie, Freunden und Nachbarn. Darüber hinaus möchte sie aber auch eine tägliche Hilfe bei der Körperpflege, beim An- und Ausziehen und bei Tätigkeiten im Haushalt. Sie beantragt daher entsprechende Leistungen bei ihrer Pflegekasse.
Die Pflegekasse beauftragt den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) mit einer Begutachtung der Frau. Der Gutachter soll feststellen, in welchen Bereichen und wie viele Minuten sie auf fremde Hilfe angewiesen ist. Er kommt zu der Einschätzung, dass sie vor allem bei der hauswirtschaftlichen Versorgung Hilfe benötige, nicht so sehr bei der Körperpflege. Die Pflegekasse lehnt es daraufhin ab, der Frau Pflegegeld zu zahlen. Es liege keine Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 1 vor.
Nach einem erfolglosen Widerspruch wendet sich die Frau mit ihrer Klage an das Sozialgericht Lübeck.
DIE ENTSCHEIDUNG
Das Sozialgericht holte ein weiteres Gutachten ein. Die Gutachterin ging anders als der MDK davon aus, dass die Klägerin schon für ihre Grundpflege täglich 50 Minuten Hilfe benötige. 14 Minuten davon würden morgens beim täglichen Duschen und Haare waschen benötigt und 18 Minuten für die Ganzkörperwäsche am Abend. Die übrigen Minuten entfielen auf das Zubereiten der Nahrung und das An- und Ausziehen. Außerdem bestehe ein Hilfebedarf von 60 Minuten täglich bei Verrichtungen im Haushalt.
Das Sozialgericht gab daraufhin der Klage statt und verpflichtete die Pflegekasse, Leistungen der Pflegestufe 1 zu gewähren. Es ging davon aus, dass es angesichts des Alters der Frau angemessen sei, wenn sie morgens täglich duschen und Haare waschen und abends eine weitere Ganzkörperwäsche vornehmen wolle.
Die Pflegekasse legte dagegen Berufung vor dem Landessozialgericht ein, über die noch nicht entschieden wurde. Das Urteil ist daher bislang nicht rechtskräftig.
DAS RECHT
Der Zeitraum, für den die Pflegebedürftigkeit der Frau geprüft werden musste, lag im Jahr 2015. Daher war noch das seinerzeit geltende Recht anzuwenden. Danach galt: Ob bzw. in welcher Höhe jemand Pflegegeld bekam, hing davon ab, welcher Pflegestufe er zugeordnet wurde. Es gab die Pflegestufen 1, 2 und 3. Die Zuordnung bestimmte sich durch den zeitlichen Aufwand, in dem die Person pflegebedürftig war. Dabei wurde zunächst die Grundpflege betrachtet. Das ist die Pflege, die unmittelbar an der Person ausgeführt wird. Die Grundpflege umfasste die Körperpflege, die Ernährung und die Mobilität. Der Pflegebedarf in der Grundpflege musste für die Pflegestufe 1 täglich mehr als 45 Minuten bestehen. Außerdem musste die betroffene Person noch mehrfach in der Woche Unterstützung bei der Haushaltsführung benötigen. Der durchschnittliche Pflegeaufwand pro Tag musste bei mindestens 90 Minuten liegen. Für die Pflegestufe 2 musste der tägliche Hilfebedarf mindestens 3 Stunden und für die Pflegestufe 3 mindestens 5 Stunden betragen.
Welche Tätigkeiten der Grundpflege oder der Haushaltsführung dabei als notwendig angesehen werden, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. So kann etwa der Bedarf an Körperpflege bei körperlich sehr aktiven Personen höher sein als bei Personen, die sich überwiegend in der Wohnung aufhalten und nicht mehr viel bewegen. Demgegenüber können auch vieles Sitzen oder Bettlägerigkeit bestimmte Pflegetätigkeiten erfordern, die bei aktiven Menschen nicht so wichtig sind.
Ab dem 1. Januar 2017 wurde dieses System grundlegend geändert. Seitdem wird mit einem Punktesystem bewertet, wie selbständig eine Person noch ist. Es kommt jetzt nicht mehr so sehr darauf an, ob der Pflegebedarf vor allem in der Grundpflege oder vielleicht eher in anderen Bereichen besteht. Es werden Punkte für 6 verschiedene Lebensbereiche vergeben: 1. Mobilität, 2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, 4. Selbstversorgung, 5. Umgang mit der Krankheit und 6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte. Je nachdem wie viele Punkte einer Person zugewiesen werden, wird sie einem Pflegegrad zugeordnet. Es gibt nun die Pflegegrade 1 bis 5.
Sowohl nach dem alten als auch nach dem neuen System wird eine Person, die Pflegeleistungen beantragt, zunächst durch den MDK begutachtet. Nach diesem Gutachten erfolgt dann die Zuordnung zu einer Pflegestufe bzw. einem Pflegegrad. Ist die Person mit der Entscheidung der Pflegekasse nicht einverstanden, kann sie Widerspruch einlegen. Dann überprüft die Pflegekasse ihre Entscheidung zunächst selbst. Ggf. wird hier auch noch ein weiteres Gutachten eingeholt.
Führt auch dies nicht zu dem Ergebnis, das man für richtig hält, kann gegen die Entscheidung der Pflegekasse Klage erhoben werden. Auch im Klageverfahren kommt es häufig zu einer weiteren Begutachtung durch einen Pflegesachverständigen. Unter Umständen gibt es sogar noch eine weitere Begutachtung im Rahmen eines Berufungsverfahrens vor dem Landessozialgericht. Gegen die Entscheidung des Landessozialgerichts kann die Revision zum Bundessozialgericht nur eingelegt werden, wenn sie vom Landessozialgericht zugelassen wird. Dafür muss der Fall aber von grundsätzlicher Bedeutung sein oder das Landessozialgericht muss von der Rechtsprechung der Obergerichte abgewichen sein. Beim Bundessozialgericht werden daher nur noch Rechtsfragen geklärt, zu einer weiteren Begutachtung würde es dort nicht mehr kommen.