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Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht und Sozialgerichte : Thema: Gerichte & Justizbehörden

Eine grundsicherungsrechtliche Hilfebedürftigkeit entfällt erst dann, wenn die betroffene Person eine gegenüber der Grundsicherung vorrangige Sozialleistung auch tatsächlich in Anspruch nimmt – und nicht bereits dann, wenn feststeht, dass sie einen Anspruch auf die vorrangige Leistung innehat.

Letzte Aktualisierung: 10.11.2020

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 4. August 2017, S 33 AS 143/17 ER (PDF, 306KB, Datei ist barrierefrei)

Neben den „gewöhnlichen“ Klageverfahren entfällt ein nicht unerheblicher Teil der Arbeit in der Sozialgerichtsbarkeit auf Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Dabei handelt es sich um Eilrechtsschutz, bei dem der Rechtsschutzsuchende, der in einem solchen Verfahren nicht „Kläger“ sondern „Antragsteller“ genannt wird, eine im Vergleich zu einem regulären Klageverfahren wesentlich schnellere Entscheidung erhält. Ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird regelmäßig im Verlauf einiger Wochen erledigt, während ein Klagverfahren aufgrund der Belastungssituation der Sozialgerichtsbarkeit nicht selten mehrere Jahre hindurch anhängig ist, bis eine Entscheidung ergeht. Dafür wird durch die raschere Entscheidung im Eilrechtsschutz, die das Gericht nicht durch ein Urteil nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung (oder auch durch Gerichtsbescheid), sondern durch einen Beschluss ohne vorhergehende mündliche Verhandlung trifft, grundsätzlich aber lediglich eine vorläufige – und keine endgültige – Regelung des Streitverhältnisses getroffen. Das bedeutet im Grundsatz, dass die Rechtsposition eines in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erfolgreichen Beteiligten unsicherer ist als die eines Beteiligten, der ein günstiges Urteil im Hauptsacheverfahren erstritten hat. Denn nicht selten folgt einem Eilverfahren noch ein reguläres Klagverfahren über denselben Streitgegenstand (Hauptsacheverfahren genannt), das einen anderen Ausgang als das Eilverfahren nehmen kann. In einem solchen Fall wären z.B. in einem Eilverfahren erstrittene vorläufige Sozialleistungen an den Leistungsträger zurückzugewähren. Hintergrund der Vorläufigkeit der gerichtlichen Entscheidung in einem Eilverfahren ist, dass das Gesetz – um dem Gericht eine rasche Entscheidung zu ermöglichen – geringere Anforderungen an das Maß der gerichtlichen Überzeugung vom dargelegten Sachverhalt stellt: Während das Gericht im regulären Klagverfahren von den tatsächlichen Umständen, die für die Entscheidung des Rechtsstreits relevant sind, vollständig überzeugt sein muss, reicht es im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes schon aus, dass das Gericht das Vorliegen bestimmter Tatsachen nur für überwiegend wahrscheinlich hält. Daher darf das Gericht im Eilverfahren durchaus gewisse (Rest-) Zweifel an entscheidenden Tatsachen haben, im Klagverfahren muss die richterliche Überzeugung hingegen so stark sein, dass jedem vernünftigen Zweifel Schweigen geboten ist. Auf der anderen Seite verlangt der Eilrechtsschutz zusätzlich, dass die Sache für den Betroffenen dringlich ist. Dies ist nur der Fall, wenn das Abwarten des regulären Klageverfahrens unzumutbar ist, weil schwere Nachteile eintreten würden. Diese Eiligkeit hat der Antragsteller ebenfalls darzulegen, sie wird als Anordnungsgrund bezeichnet. Das Eilverfahren ist daher kein Mittel der allgemeinen Beschleunigung von Rechtsstreitigkeiten.

Besondere Bedeutung kommt dem einstweiligen sozialgerichtlichen Rechtsschutz in den Bereichen zu, in denen es um lebensunterhaltssichernde Leistungen geht, also insbesondere im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – landläufig unter dem Begriff „Hartz IV“ bekannt – und im Bereich der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII), der Sozialhilfe. So dreht sich auch der folgende Fall um Leistungen nach dem SGB II.

Der Fall

Die Antragstellerin war arbeitslos geworden und bezog deshalb Arbeitslosengeld von der Agentur für Arbeit in geringer Höhe. Zudem hatte sie eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen. Der Arbeitslohn reichte zusammen mit dem Arbeitslosengeld nicht aus, um den Lebensunterhalt im Sinne des SGB II vollständig zu decken. Sie beantragte daher zuständigen Jobcenter ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Diesen Antrag lehnte das Jobcenter unter Hinweis darauf ab, dass die Antragstellerin einen monatlichen Anspruch auf Wohngeld habe. Diese Leistung sei beim Amt für Wohnen und Grundsicherung zu beantragen. Addiere man den monatlichen Betrag an Wohngeld, den die Antragstellerin beanspruchen könne, zu ihrem Erwerbseinkommen und ihrem Arbeitslosengeld hinzu, sei sie nicht hilfebedürftig im Sinne des SGB II und habe daher keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin Widerspruch. Zugleich – und mithin vor Abschluss des bei dem Jobcenter durchgeführten Widerspruchsverfahrens – stellte sie beim Sozialgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der das Jobcenter verpflichtet werden sollte, ihr vorläufig lebensunterhaltssichernde Leistungen nach dem SGB II für den folgenden sechsmonatigen Bewilligungsabschnitt (Juli – Dezember) zu gewähren.

Die Entscheidung

Der Antrag war erfolgreich. Das Sozialgericht verpflichtete das Jobcenter im Wege der einstweiligen Anordnung, der Antragstellerin für die umstrittenen Monate ergänzende Arbeitslosengeld II-Leistungen in Höhe von jeweils 105,20 EUR zu gewähren. Denn in dieser Höhe sei der grundsicherungsrechtlich anzuerkennende Bedarf der Antragstellerin durch den Bezug eines niedrigen Erwerbseinkommens und des geringen Arbeitslosengeldes nicht gedeckt. Zwar handele es sich bei Wohngeld um eine den Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II vorrangige Leistung und die Antragstellerin sei auch verpflichtet, zur Deckung ihres Lebensunterhaltsbedarfs einen diesbezüglichen Antrag bei der Wohngeldbehörde zu stellen. Zur Entstehung dieser Pflicht hätte es jedoch einer ausdrücklichen, mit einer angemessenen Fristsetzung versehenen Aufforderung der Antragstellerin durch das Jobcenter bedurft, einen Wohngeldantrag zu stellen. In dem Bescheid, mit dem das Jobcenter den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende abgelehnt habe, finde sich eine solche Aufforderung nicht. Selbst wenn die Antragstellerin in einem solchen Fall keinen Wohngeldantrag gestellt hätte, hätte dies nicht schlicht zum Wegfall ihres Anspruchs auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II geführt. Denn dann wäre es an dem Jobcenter gewesen, den erforderlichen Wohngeldantrag für die Antragstellerin zu stellen und damit die Gewährung von Wohngeld an die Antragstellerin und mithin den Wegfall ihrer Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II zu veranlassen. Keinesfalls könne das Jobcenter einfach ein fiktives Wohngeldeinkommen auf Seiten der Antragstellerin berücksichtigen und so ein den grundsicherungsrechtlichen Bedarf übersteigendes Einkommen errechnen. Denn insoweit könnten allein dem Hilfebedürftigen tatsächlich zur Verfügung stehende bereite Mittel angerechnet werden, nicht aber ein fiktives Einkommen, auf das die Antragstellerin zwar von Rechts wegen einen Anspruch habe, das ihr tatsächlich aber gar nicht zufließe.

Das Recht

Inhaltlich war wichtig, dass eine von vier Grundvoraussetzungen für eine Anspruchsberechtigung nach dem SGB II die Hilfebedürftigkeit ist (neben einem Lebensalter zwischen 15 und 67 Jahren, der Erwerbsfähigkeit und dem gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland; vgl. § 7 Abs. 1 SGB II). Dazu bestimmt § 9 Abs. 1 SGB II, dass hilfebedürftig derjenige ist, der seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Schon daraus wird der Nachrang der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II – gemäß § 19 Abs. 1 SGB II Arbeitslosengeld II genannt – im Verhältnis zu anderen Sozialleistungen deutlich. Ausdruck dieses Nachranggrundsatzes ist auch § 12a Satz 1 SGB II, auf den das Jobcenter im vorgenannten Fall maßgeblich abgestellt hatte. Danach sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern das zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Anders als das Jobcenter hier gemeint hat, folgt daraus, dass ein Hilfebedürftiger – wie hier die Antragstellerin – einen solchen Antrag (hier auf Wohngeld) nicht stellt, jedoch nicht, dass der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II wegfiele. Insoweit kommt es, wie das Sozialgericht unter Verweis auf ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. November 2012 (AZ: B 14 AS 33/12 R) dargelegt hat, stets darauf an, ob die vorrangige Leistung dem Hilfebedürftigen auch tatsächlich zur Verfügung steht. Das war hier hinsichtlich des Wohngeldes nicht der Fall, weil die Antragstellerin einen entsprechenden Antrag (noch) nicht gestellt hatte. Das Sozialgericht hat in seiner Entscheidung auch aufgezeigt, welcher Weg dem Jobcenter zur Verfügung steht, um die Hilfebedürftigkeit einer Person, die Anspruch auf gegenüber dem Arbeitslosengeld II vorrangige Leistungen besitzt, von diesem Anspruch aber keinen Gebrauch macht (weil sie den insoweit erforderlichen Antrag nicht stellt), nach dem SGB II zu beenden. Für diesen Fall bestimmt nämlich § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II, dass das Jobcenter selbst den Antrag bei der zuständigen Behörde stellen kann, wenn Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen.

Prozessrechtlich ist für einstweiligen Rechtsschutz vor den Sozialgerichten der § 86b Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Belang. Danach ist Eilrechtsschutz gegen einen negativen Bescheid der Behörde für den Bürger vorrangig durch einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs zu realisieren – wobei Widersprüchen gegen solche negativen Bescheide grundsätzlich schon von vornherein aufschiebende Wirkung zukommt (§ 86a Abs. 1 SGG). Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kommt deshalb nur in Betracht, wenn einem Widerspruch ausnahmsweise keine aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. dazu § 86a Abs. 2 SGG). Aufschiebende Wirkung meint dabei, dass der mit dem Widerspruch angegriffene Bescheid – zunächst – nicht vollzogen werden darf bzw. (noch) keine rechtlichen Wirkungen entfaltet. Es gilt dann zunächst die Rechtslage fort, wie sie vor Erlass des negativen Bescheides bestanden hatte. Dies hätte der Antragstellerin im vorliegenden Fall freilich nicht geholfen, weil sie erstmalig Leistungen nach dem SGB II beantragt hatte. Ihr ging es um die vorläufige Gewährung von Leistungen, die sie zuvor noch nicht erhalten hatte. In einem solchen Fall ist vorläufiger Rechtsschutz über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu realisieren, um die Behörde zur vorläufigen Gewährung der begehrten Leistung verpflichten zu lassen. Ein solcher Antrag ist nach § 86b Abs. 3 SGG auch schon vor Klagerhebung (und Durchlaufen des Widerspruchsverfahrens) zulässig. Voraussetzung für den Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung ist zum einen die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs (es muss also eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass dem Antragsteller der geltend gemachte Leistungsanspruch auch zusteht), zum anderen die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes (dieser ist gegeben, wenn es dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zumutbar ist, den Ausgang eines regulären Klagverfahrens abzuwarten, weil in diesem Fall erhebliche Nachteile für ihn eintreten würden).

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