SG Schleswig, Urteil vom 29. März 2018, S 6 KR 158/14 (PDF, 317KB, Datei ist barrierefrei)
Die Verwaltung soll im Interesse der Bürgerinnen und Bürger nicht nur rechtmäßig und verlässlich arbeiten, sie soll zudem auch effizient – und das heißt heute vor allem auch: schnell – sein. Das gilt gerade auch für die Sozialverwaltung und damit auch für die Krankenkassen als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dass dies im Interesse einer und eines jeden Versicherten liegt, die oder der gerade dringend auf die Gewährung einer bestimmten ärztlichen Behandlung oder eines bestimmten Medikaments angewiesen ist, versteht sich von selbst. Der Gesetzgeber hat daher vor einigen Jahren die Krankenkassen verpflichtet, über einen Antrag innerhalb von drei Wochen – im Falle der Einholung eines medizinischen Gutachtens innerhalb von fünf Wochen – zu entscheiden. Erfolgt die Entscheidung nicht innerhalb dieser Fristen, gilt die beantragte Leistung bereits kraft Gesetzes als genehmigt, mit der Folge, dass die Krankenkasse die Leistung erbringen muss, obwohl sie noch gar keine abschließende Entscheidung über den Antrag getroffen hat. Gerade in der Zeit unmittelbar nach Inkrafttreten der entsprechenden Vorschrift waren die Krankenkassen, für die vorher keine normierte Entscheidungsfrist bestanden hatte, an das ihnen nun gesetzlich vorgegebene rasche Tempo noch nicht gewohnt. Folge war, dass häufig die sogenannte Genehmigungsfiktion eintrat und die Krankenkasse plötzlich Leistungen erbringen musste, zu deren Erbringung sie sich selbst gar nicht verpflichtet sah. Daher versuchten Krankenkassen in solchen Fällen häufig, die vom Gesetz fingierte Leistungsgenehmigung unter Rückgriff auf das für Verwaltungsverfahren im Sozialrecht geltende Recht anzugreifen, um ihre daraus entstandene Leistungspflicht wieder aus der Welt zu schaffen. In solchen Fällen hat aber die Sozialgerichtsbarkeit darauf geachtet, dass die im Interesse der Versicherten geschaffene Genehmigungsfiktion nicht auf verfahrensrechtlichem Weg wieder entwertet wird. Das zeigt der nachfolgende Fall.
Der Fall
Die an krankhaftem Übergewicht leidende Klägerin, die sich nach eigenen Angaben den zur Verfügung stehenden herkömmlichen Therapien zur Gewichtsreduktion erfolglos unterzogen hatte, beantragte am 14. Februar 2014 bei ihrer Krankenkasse die Übernahme der Kosten für eine beabsichtigte Magenband-Implantation. Die Krankenkasse leitete den Antrag an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Nord (MDK) weiter und setzte die Klägerin mit Schreiben vom 4. März 2014 davon in Kenntnis. Der MDK riet in seiner Stellungnahme vom 19. März 2014 von einer Leistungsbewilligung ab, da seiner Ansicht nach die Klägerin die bei einer Adipositas-Erkrankung vorrangig in Anspruch zu nehmenden konservativen Therapien gerade noch nicht vollständig ausgeschöpft habe. Die Krankenkasse lehnte den Antrag der Klägerin dementsprechend mit Bescheid vom 25. März 2014 ab. Nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens erhob die Klägerin am 14. Juli 2014 vor dem Sozialgericht Kiel Klage auf Gewährung der Magenband-Implantation gegen ihre Krankenkasse. Noch während des Klagverfahrens vor dem Sozialgericht erließ die Krankenkasse gegenüber der Klägerin am 16. Februar 2015 einen Bescheid, in dem sie erklärte, sie nehme die hinsichtlich des Antrags der Klägerin vom 14. Februar 2014 eingetretene Genehmigungsfiktion zurück, weil die Gewährung der Magenband-Operation nicht der materiellen Rechtslage entspreche. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf diese Leistung, weil sie die herkömmlichen Therapieoptionen nicht ausgeschöpft habe, was der MDK schließlich ausdrücklich festgestellt habe.
Die Entscheidung
Das Sozialgericht hat die Bescheide der Krankenkasse vom 25. März 2014 und vom 16. Februar 2015 aufgehoben und die Krankenkasse dazu verurteilt, die Klägerin mit der Operation zum Zweck der Implantation eines Magenbandes zu versorgen. Denn die von der Klägerin mit ihrem Antrag vom 14. Februar 2014 begehrte Leistung gelte als genehmigt, weil die Krankenkasse den Antrag nicht innerhalb der insoweit geltenden Fünf-Wochen-Frist, die am 21. März 2014 endete, beschieden habe – sondern erst vier Tage später. Dass die materiellen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Versorgung mit einer adipositas-chirurgischen Operation möglicherweise nicht vorliegen würden, sei unerheblich. Für den Eintritt der gesetzlichen Genehmigungsfiktion infolge Überschreitung der Entscheidungsfrist sei es ausreichend, dass es die Klägerin für möglich halten durfte, dass sie einen Anspruch auf eine solche Operation gegen ihre Krankenkasse innehabe – was im vorliegenden Fall zu bejahen sei. Die Krankenkasse könne sich auch nicht auf die von ihr erklärte Rücknahme der Genehmigungsfiktion berufen. Denn eine solche Rücknahmemöglichkeit bestehe nur, wenn der Eintritt der Fiktion der Leistungsgenehmigung rechtswidrig gewesen wäre. Ob die fiktiv genehmigte Leistung von der Krankenkasse hingegen in rechtmäßiger Weise hätte bewilligt werden können, spiele bei der Frage nach dem Bestehen einer Rücknahmemöglichkeit hingegen keine Rolle.
Das Recht
Die im vorliegenden Fall wesentlichen Entscheidungsfristen finden sich – wie auch Regelungen zu Mitteilungs- bzw. Informationspflichten der Krankenkasse gegenüber ihren Versicherten im Zusammenhang mit der Stellung eines Antrags – im § 13 Abs. 3a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V), der zum 26. Februar 2013 in Kraft trat. Auch die Rechtsfolgen einer Fristversäumung durch die Krankenkasse, insbesondere die gesetzlich fingierte Genehmigung der beantragten Leistung sowie das Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs im Falle der bereits erfolgten Beschaffung der begehrten medizinischen Leistung auf eigene Rechnung der oder des Versicherten, finden sich in dieser Vorschrift, die für das Rechtsverhältnis zwischen Versicherten und ihrer Krankenkasse somit von eminenter Bedeutung ist. Wichtig ist für die Versicherten in diesem Zusammenhang – und auch dies spielte im vorliegenden Fall eine Rolle –, dass nicht schlechthin jede bei der Krankenkasse beantragte Leistung nach Ablauf der für die Krankenkasse geltenden Entscheidungsfristen als genehmigt gilt, sondern nur solche Leistungen, die eine krankenversicherte Person subjektiv für erforderlich halten durfte und die objektiv nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen. Liegt der Fall aber so, dass die begehrte Leistung von einem Arzt als medizinisch indiziert angesehen wird, darf der Versicherte im Regelfall subjektiv davon ausgehen, dass die Leistung für ihn tatsächlich erforderlich ist und auch objektiv zum Leistungskatalog der Krankenversicherung zählt.
Für das Sozialgericht war zudem auch zu klären, ob in dem von der Klägerin schon am 14. Juli 2014 eingeleiteten Klagverfahren über den Rücknahmebescheid der Krankenkasse vom 16. Februar 2015 überhaupt zu befinden war. Dies konnte das Sozialgericht bejahen, denn § 96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bestimmt, dass ein nach Klagerhebung ergehender Bescheid dann zum Gegenstand des Klagverfahrens wird, wenn er den (ursprünglich) mit der Klage angegriffenen Bescheid abändert oder ersetzt. Die Frage der Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines Bescheides – oder im vorliegenden Fall: einer bloßen fingierten Genehmigung – beantwortet sich nach § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Als Grundsatz ist dort bestimmt, dass nur ein solcher Bescheid von der Behörde zurückgenommen werden kann, der bereits von Anfang an rechtswidrig war. Hier wollte die Krankenkasse darauf hinaus, dass die Gewährung der Magenband-Operation an die Klägerin rechtswidrig sei – was der Fall gewesen wäre, wenn die Klägerin, wie der MDK gemeint hatte, zuvor nicht sämtliche konservativen Therapien zur Behandlung der Adipositas in Anspruch genommen hätte. Mit diesem Einwand hat das Sozialgericht die Krankenkasse aber nicht durchdringen lassen, sondern bestimmt, dass es auf die materielle Rechtmäßigkeit einer Leistung nach dem Recht der Krankenversicherung dann nicht mehr ankommen kann, wenn die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V eingetreten ist. Eine solche fingierte Genehmigung könne nur zurückgenommen werden, wenn im Zusammenhang mit dem Eintritt der Genehmigungsfiktion Umstände vorgelegen hätten, die zur Rechtswidrigkeit der Annahme der gesetzlichen Fiktion geführt hätten – was hier aber nicht der Fall war. Damit hat sich das Sozialgericht dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. November 2017 (Aktenzeichen: B 1 KR 2/17 R) angeschlossen. Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion vor, ist die Krankenkasse daher regelmäßig mit dem Einwand ausgeschlossen, dass die jetzt fingiert genehmigte Leistung eigentlich nicht rechtmäßig hätte genehmigt werden dürfen. Die Krankenkasse trägt also das Risiko, dass sie bei nicht rechtzeitiger Entscheidung auch Leistungen bezahlen muss, die sie bei rechtzeitiger Entscheidung nicht hätte erbringen müssen. Diese Folge ist jedoch bewusst mit dem § 13 Abs. 3a SGB V eingeführt worden, um die Krankenkassen zu einer zügigen Entscheidung anzuhalten.