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Thema : Die Ostseesturmflut 1872

 Auswirkungen der Ostseesturmflut 1872

Letzte Aktualisierung: 02.11.2022

Übersicht (in zwei Teilen) über die an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins während der Sturmflut 1872 überfluteten Küstenniederungen (Quelle: MEKUN).
Übersicht (in zwei Teilen) über die an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins während der Sturmflut 1872 überfluteten Küstenniederungen (Quelle: MEKUN).
Übersicht (in zwei Teilen) über die an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins während der Sturmflut 1872 überfluteten Küstenniederungen (Quelle: MEKUN). Da die genaue Ausdehnung nicht überliefert ist, wird am Festland die drei Meter-Höhenlinie über Normalhöhennull (NHN) zur landseitigen Begrenzung der Überflutungsfläche genutzt, auf der Insel Fehmarn die 2,5 Meter-Höhenlinie.

Die Folgen der Sturmflut vom 13. November 1872 waren katastrophal. Wahrscheinlich wurde eine Fläche von mehr als 30.000 Hektar an der Ostseeküste von Schleswig-Holstein überflutet. Die genaue Ausdehnung lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Die wenigen Deiche, die vor der Sturmflut bereits vorhanden waren, versagten. Insbesondere in den Küstenorten bot sich ein Bild der Zerstörung. In Schleswig-Holstein starben 31 Menschen in den Fluten, 2.849 Gebäude wurden zerstört oder stark beschädigt und 15.164 Personen hilfsbedürftig. Es war das letzte Sturmflutereignis in Schleswig-Holstein, bei dem Menschenleben zu beklagen waren. Im gesamten westlichen Ostseeraum starben 271 Menschen, über ein Drittel davon auf Schiffen.

Die Sturmflut verursachte in Schleswig-Holstein unterschiedlich große Schäden

Heinz Kiecksee hat 100 Jahre nach der Sturmflut auf bemerkenswert akribische Art und Weise Angaben zu den Schäden und der Schadensbehebung aus alten Zeitungen und Dokumenten zusammengetragen. Sie sind in seinem Gedenkbuch: "Die Ostseesturmflut 1872" veröffentlicht worden (Kiecksee 1972). Die nachfolgenden regionalen Ausführungen basieren im Wesentlichen auf seinen Zusammenstellungen.

Im nachfolgenden Text sind für verschiedene Orte und Regionen Links zu sogenannten Wischkarten enthalten. Durch verschieben des Zeigers in diesen Wischkarten wird erkenntlich, welche Gebiete infolge der Sturmflut 1872 unter Wasser standen. Als Hintergrund dient eine aktuelle Karte von Schleswig-Holstein.

Zerstörtes Gebäude in Niendorf an der Ostsee nach der Sturmflut von 13. November 1872 (Quelle: Wikimedia-Commons, Reproduktion aus einer Zeitung aus dem Bestand des Gemeindearchivs Timmendorfer Strand)
Zerstörtes Gebäude in Niendorf an der Ostsee nach der Sturmflut von 13. November 1872 (Reproduktion aus einer Zeitung aus dem Bestand des Gemeindearchivs Timmendorfer Strand)

In der Lübecker Bucht waren die Fischerdörfer Gothmund (Lübeck) und Niendorf (Timmendorfer Strand) besonders betroffen. In Gothmund blieben von 22 Häusern nur vier unbeschädigt. Die gesamte Einwohnerschaft des Ortes fand hier zunächst Unterkunft. In Niendorf wurden etwa 40 Personen gezwungen, auf den Böden und Dächern ihrer Häuser auszuharren, da das Wasser sowohl von vorne als auch von hinten aus Richtung Hemmelsdorfer See kam. Vier Menschen ertranken. 12 Wohnhäuser wurden zerstört und 14 beschädigt. 38 Familien mit 132 Personen wurden obdachlos. Ein gerade als Uferschutz errichtetes Steindeckwerk wurde stark beschädigt, da das Fundament an der Rückseite weggespült wurde. In Scharbeutz wurden die ersten zwei unmittelbar hinter dem Strandbereich errichteten Wohnhäuser zerstört, wobei fünf Menschen starben. Im benachbarten Sierksdorf wurden alle Häuser an der Küste beschädigt und fünf zerstört.  

Wischkarte innere Lübecker Bucht

In der Klosterseeniederung brach der 10 Jahre zuvor errichtete Deich zwischen Grömitz und Kellenhusen. Die etwa 1.500 ha große Niederung wurde komplett überflutet, wobei zwei Menschen starben. Das Wasser drang bis nach Grube, etwa fünf Kilometer von der Küste entfernt, vor. Dort blieb das höher gelegene Pastorat mit seiner Trinkwasserquelle verschont. Sonst waren weit und breit alle Brunnen durch Salzwasser unbrauchbar geworden. Auf dem Gut Klostersee in der Niederung ertranken 350 Kühe und 230 Schweine.

Wischkarte Klosterseeniederung – Oldenburger Graben

Übersichtskarte des Deich- und Entwässerungsverbandes Klosterseeniederung. Die Verbandsgrenze ist gleichzeitig die Grenze der Überflutung am 13. November 1872 (Kannenberg 1958).
Übersichtskarte des Deich- und Entwässerungsverbandes Klosterseeniederung. Die Verbandsgrenze ist gleichzeitig die Grenze der Überflutung am 13. November 1872.

Vor Dahme brach der erst drei Jahre vorher fertiggestellte Deich. Er bestand vorwiegend aus sandigem Material und seine Deichkrone war kaum höher als der Höchstwasserstand der Sturmflut. Somit hatte der neue Deich den heranbrechenden Wellen nichts entgegenzusetzen.

Historische Karte von 1878 mit den Überflutungsgrenzen im Oldenburger Graben während der Sturmflut vom 13. November 1872 (Quelle: LASH Abt. 402 A 24 Nr. 36).
Historische Karte von 1878 mit den Überflutungsgrenzen im Oldenburger Graben während der Sturmflut vom 13. November 1872.

Der gesamte Oldenburger Graben mit einer Fläche von 4.300 Hektar überflutete. In Dahme starben 10 Menschen, mehr als in jeder anderen Gemeinde Schleswig-Holsteins. Laut Reher (1931) waren nach der Flut nur noch 20 von etwa 80 Häusern bewohnbar. Insgesamt wurden 51 Familien mit rund 300 Personen obdachlos. Die Sturmflut war in Dahme ein solch einschneidendes Ereignis, dass die Gemeindeabrechnung vom Jahre 1876 noch die Überschrift hatte: "Das Jahr IV nach der großen Flut". Anhand von Augenzeugenberichten hielt Reher (1931) fest: "In Dahme verließ man sich auf den neuen Deich, der den Leuten aber statt des Schutzes nur Unheil und Verderben brachte. Ohne den Deich wäre das Wasser allmählich ins Dorf gekommen, und die Einwohner hätten sich und das wichtigste ihrer Habe rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Nun aber drang die am Deich angestaute Wassermasse nach der Durchbrechung des Deiches mit einer derartigen Schnelligkeit vor, daß viele Leute von ihr überrascht wurden und auf den Hausboden flüchten mußten. Die Wände der Fachwerkbauten stürzten unter dem Anprall der Wogen ein." Diese Sätze aus dem Jahr 1931 unterstreichen die Bedeutung eines hohen Gefahrenbewusstseins in der Bevölkerung. Auch der stärkste Deich kann brechen. Dies wiederum zeigt die Notwendigkeit einer privaten und räumlichen Vorsorge sowie eines effektiven Katastrophenschutzes in Küstenniederungen auf; einschließlich rechtzeitiger Hochwasserwarnung und Evakuierung vor Deichbruch.

Es ist davon auszugehen, dass auf der Insel Fehmarn bis zu 6.000 Hektar bzw. ein Drittel der Gesamtfläche überflutete, wobei fünf Menschen ertranken. 53 Wohnhäuser wurden zerstört und 366 beschädigt. Ein besonderes Schicksal erlitt die Lotsenfamilie Kruse am Fehmarnsund, die sich zunächst noch auf dem Dach Ihres Hauses rettete. Als dieses einstürzte, ertranken die Eltern und ein Sohn. Der 12-jährige Sohn Fritz konnte sich an dem intakt gebliebenen Dachstuhl festhalten und trieb ab. Im Laufe des 14. Novembers wurde er 15 Seemeilen nordöstlich von Kiel von der Besatzung der französischen Brigg "Locquirec" gerettet und in Kiel einer Fürsorgestelle übergeben. Über 24 Stunden war er auf der Ostsee umhergetrieben. Trotz dieser Odyssee und dank staatlicher finanzieller Unterstützung wurde Fritz Kruse Schiffskapitän. Sein weiteres Schicksal war unbekannt, bis ein NDR-Team seine Nachfahren auf Samoa entdeckte. Sie betreiben dort ein Hotel mit Namen "Insel Fehmarn".

Wischkarte Fehmarn

Überflutete Gebiete auf der Insel Fehmarn am 13. November 1872 nach einer Zeichnung von Heydorn 1872 (Quelle: Kannenberg 1958).
Überflutete Gebiete auf der Insel Fehmarn am 13. November 1872 nach einer Zeichnung von Heydorn 1872

Auch der Deich in der Probstei nordöstlich von Kiel hielt der Sturmflut nicht stand. Die gesamte Probsteier Niederung mit einer Fläche von etwa 2.000 Hektar wurde überflutet. Fast sämtliche Häuser in den Ortschaften Schönberg, Wendtorf, Stein und Laboe wurden zerstört und 82 Familien obdachlos. Drei Personen ertranken, als sie mit einem Floß ihr von Wasser umflutetes Haus verlassen wollten.

Wischkarte Probstei

In der Kieler Förde war das Fischerdorf Ellerbek besonders betroffen. Zehn Häuser stürzten ein, 50 Boote und viel Fischereimaterial trieben davon und wurden zerstört. Dadurch gerieten 32 Familien in größte Not. Südlich von Ellerbek befanden sich eine Werft und Dockanlagen für die Marine im Bau. Die ganze Baustelle wurde überflutet. Von fünf Dampframmen stürzten zwei um, das Kranmaschinenhaus der Norddeutschen Werft stürzte ein und die Unterkünfte der schwedischen Arbeiter wurden überflutet. In Kiel selber waren nach sehr genauen Berichten 13 Straßen und 341 Grundstücke bzw. insgesamt 332.178 m2 überflutet.

Zerstörung nach der Sturmflut in Kiel-Ellerbek (Quelle: Stadtarchiv Kiel).
Zerstörung nach der Sturmflut in Kiel-Ellerbek

Eckernförde hatte von allen Küstenorten Schleswig-Holsteins die schwersten Schäden aufzuweisen. Durch die nach Nordosten offene Lage der Eckernförder Bucht konnten die Sturmwellen hier besonders hoch auflaufen und ihre zerstörerische Wirkung entfalten. Die Lübecker Zeitung berichtete, dass besonders am Jungfernstieg, der damals noch direkt an den Strand-Dünenbereich angrenzte, der Anblick schrecklich war. Fast alle Häuser waren beschädigt. Von mehreren blieb nur noch einen Haufen Steine, andere waren wie wegrasiert. Dazwischen und daneben lagen die Trümmer von Hausgerät, Holzwerk und Kleidern. Insgesamt wurde etwa ein Viertel aller Häuser in Eckernförde in Mitleidenschaft gezogen; 78 wurden völlig zerstört und 138 beschädigt. Nach der Katastrophe waren 112 Familien obdachlos und 150 bis 160 Familien mit etwa 400 Personen hilfsbedürftig. In den Straßen waren Berge von Sand, Schlick und Seetang, vermischt mit allen möglichen Trümmern, aufgeschichtet. Für die Aufräumungsarbeiten musste Militär eingesetzt werden. Pioniere aus Rendsburg bauten eine Ponton-Notbrücke für den völlig zerstörten Damm. Obwohl die Zahl der beschädigten Häuser und Hilfsbedürftigen nach dem Hochwasser in Eckernförde deutlich höher war als in Dahme, kam hier niemand in den Fluten ums Leben. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass das Wasser in Eckernförde, im Gegensatz zu Dahme, relativ gleichmäßig anstieg. Dadurch verblieb den Menschen hier mehr Zeit zum Reagieren.

Wischkarte Eckernförde

Das linke Bild zeigt einen Ausschnitt von Eckernförde aus der Preußischen Landesaufnahme 1877-80. Das rechte Bild zeigt eine Illustration der Schäden am Jungfernstieg.
Das linke Bild zeigt einen Ausschnitt von Eckernförde aus der Preußischen Landesaufnahme 1877-80. Der Strand-Dünenbereich östlich bzw. seewärts des Jungfernstiegs war zur Zeit der Sturmflut in 1872 noch unbebaut. Das rechte Bild zeigt eine Illustration der Schäden am Jungfernstieg.

Auch in der Schlei verursachte die Sturmflut große Schäden. Nördlich der Schleimündung wurde das Gut Oehe völlig zerstört. Ein Schutzdeich, den der Besitzer 12 Jahre zuvor gebaut hatte, hielt den Fluten nicht stand. Auf der Lotseninsel in der Schlei-Mündung mussten 30 Arbeiter zusammen mit der Familie des Leuchtturmwärters 17 Stunden auf dem Dachboden des Lotsenhauses ausharren. Die Arbeiter, fast alle Schleswiger, waren hier mit dem Bau einer Mole beschäftigt, als Sturm und Flut einsetzten. Das Erdgeschoss des Hauses war bereits komplett zerstört, der Dachstuhl fing an, nachzugeben, als sie um 01:00 Uhr nachts endlich wieder runterkommen konnten. Der Leuchtturmwärter hatte die Zeit im neuen Leuchtturm verbracht, da er nicht mehr rechtzeitig rausgekommen war. In Kappeln und Arnis standen alle Häuser an der Schlei im Wasser. In Schleswig wurde der Gottorfer Damm an zwei Stellen gebrochen. Schloss Gottorf war, wie auch das Fischerdorf Holm, völlig vom Wasser umschlossen. Der Verkehr zwischen Stadt und Bahnhof wurde durch Boote aufrechterhalten. In Schleswig erreichte die Sturmflut erst abends gegen 21:00 Uhr und damit als Letztes in Schleswig-Holstein seinen Höhepunkt.

Wischkarte Arnis - Schleimünde

In Flensburg traten die meisten Schäden im Hafenbezirk auf. Hier gab es ein furchtbares Durcheinander der Schiffe, die sich von Tauen und Ketten losrissen und aufs Land, auf die Schiffbrücke oder auch nur mit dem Vorderteil auf eine Brücke geschleudert wurden. In den am Hafen angrenzenden Straßen mussten die Menschen teilweise von den Dächern gerettet werden.

Wischkarte Flensburg

Der verwüstete Flensburger Hafen nach der Sturmflut vom 13. November 1872. Das Bild rechts oben zeigt eine Rettungsaktion im Flensburger Hafen.
Der verwüstete Flensburger Hafen nach der Sturmflut vom 13. November 1872 (Quelle: Wikimedia-Commons). Das Bild rechts oben zeigt eine Rettungsaktion im Flensburger Hafen (Reproduktion H. Schurig einer mehr als 100 Jahre alten Originalzeichnung).

Die Küstenfischerei war besonders betroffen

Von allen Berufszweigen hat die Küstenfischerei naturgemäß am stärksten gelitten. Kleinere Segel- oder Ruderboote waren das typische Fahrzeug des Fischers. Nach dem Einsatz wurden diese Boote einfach auf den Strand gezogen. Auf den etwas höher gelegenen Dünen und Strandwällen war der Trockenplatz für die Netze. Auch da es am Abend des 12. Novembers zunächst so aussah, als ob das Schlimmste vorüber war, wurden keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Am 13. November war es dann für Abwehrmaßnahmen zu spät. Die Holzboote trieben mit dem steigenden Wasser auf und wurden von dem hohen Wellenschlag gegen feste Hindernisse geschleudert und zerstört. Andere wurden von Wasserströmungen ins offene Meer getrieben und gingen dort unter. Die auf der Düne gelagerten Netze und weitere Fischereigeräte wurden durch Wellenschlag und Strömung zerrissen und vernichtet. Erschwerend kam noch dazu, dass die Häuser der meisten Fischer unmittelbar an der Küste standen und in der Sturmflut beschädigt oder zerstört wurden. Da die Fischerei so stark betroffen war bestand die Sorge, der gesamte Berufsstand könnte auswandern.

Was zur Schadensbehebung getan wurde

Auch durch die vielfach eindrucksvoll illustrierten Zeitungsartikel wurden die katastrophalen Auswirkungen der Sturmflut in ganz Deutschland bekannt. Eine beispiellose Hilfsbereitschaft setzte ein. So nahm ein Möbelhändler spontan 10 obdachlose Familien bei sich auf und verpflegte sie. Lübecker Frauen sorgten unter Führung des Frauenvereins für Wäsche und Kleidung. Von einer Militärformation wurden Decken und Mäntel verschenkt. Ein Pastor in Grube ließ in seinem Pastorat in großen Kesseln Essen kochen und verpflegte damit täglich 30 Alte und Kranke.

Vielerorts schlossen sich Menschen spontan in Komitees zusammen und führten Geldsammlungen durch. Da sie meist nur lokal tätig waren, wurde am 30. November 1872 in Berlin als koordinierende Zentralstelle der „Deutsche Hilfsverein für die Notleidenden an der Ostseeküste" gegründet. Der Fokus lag auf der Besorgung von Nahrungsmitteln, Brennmaterial und Kleidung sowie der Ersatzbeschaffung von Möbeln, Booten, Fischereigerät, Handwerkszeug und Vieh für geschädigte Privatpersonen. Die Wiederinstandsetzung der beschädigten Ländereien, Deiche und Häuser sollte dagegen vom Staat übernommen werden. Auf Bitten der Zentralstelle stellten die betroffenen Gemeinden die Schäden in ihrem jeweiligen Bereich fest. Wegen der sehr starken Betroffenheit sollten zuerst die Schäden der Fischer aufgenommen werden. Insgesamt wurden für Schleswig-Holstein Schäden in Höhe von etwa 750.000 Talern gemeldet. Demgegenüber standen Spenden in etwa in der gleichen Höhe aus verschiedensten Quellen. Die in Not geratenen Privatpersonen konnten somit komplett entschädigt werden. Für die besonders betroffenen Küstenfischer gab es gesonderte Geldanweisungen. Die Hansestadt Lübeck konnte den größten Teil der Entschädigungen (gemeldet waren 75.000 Taler) sogar selbst aufbringen und brauchte deshalb nur 1.430 Taler vom deutschen Hilfsverein.

Die bereits vor 1872 vorhandenen Deiche hielten der Sturmflut von 1872 allesamt nicht stand. Deshalb verabschiedete die preußische Regierung bereits im April 1873 einen Erlass für ein umfassendes Deichbauprogramm. Der Erlass enthielt Kriterien für die Planung und Bemessung von sicheren Seedeichen. Ein zukunftsweisendes Kriterium war, dass neue Deiche ausreichend landwärts von Dünen und Strandwällen errichtet werden sollten, anstatt auf ihnen. Dadurch sollte der Wellenangriff auf den Deichen reduziert und eine Pufferzone für Küstenabbruch während Sturmfluten geschaffen werden. Die Höhe der neuen Deiche sollte 5,0 m über NHN betragen und die Kronenbreite drei bis vier Meter. Die Außenböschung sollte ein Gefälle von 1:6 aufweisen. Schließlich sollten die Deiche eine Abdeckung von mindestens 0,6 m aus erosionsbeständigem Material wie Lehm haben. Durch die geringe Deichneigung und die Abdeckung sollte erreicht werden, dass brechende Wellen den Deich nicht beschädigen.

Gestaltungsprofil eines Seedeiches nach preußischen Kriterien (a) und (b) des Seedeiches von 1882 in der Probstei bei Kiel (Quelle: Hofstede and Hamann 2022).
Gestaltungsprofil eines Seedeiches nach preußischen Kriterien (a) und (b) des Seedeiches von 1882 in der Probstei bei Kiel

Leider wurden die Vorgaben bei der Umsetzung des Deichbauprogramms nicht eingehalten. Die in örtlicher Zuständigkeit errichteten neuen Deiche entstanden an einigen Orten direkt hinter dem Strand. Die mittlere Höhe lag zumeist bei etwa vier Meter über NHN. Die Außenböschungen hatten Neigungen zwischen 1:3 und 1:6. Die Abweichungen von den Vorgaben zielten in erster Linie auf Kostensenkung, da auch die Örtlichkeit einen Teil der Kosten tragen musste. Wo Nutzungen vorhanden waren, sollte auch Platz eingespart werden. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Feststellung des zuständigen Staatsbaurats nach der Fertigstellung des Deiches in der Probstei; dieser Deich würde aufgrund der umgesetzten Bauweise dem Ereignis von 1872 voraussichtlich nicht standhalten.

In den 10 Jahren nach der Sturmflut entstanden im Rahmen des preußischen Bauprogrammes 70 km Seedeiche entlang der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Sie schützen 145 km2 bzw. etwa die Hälfte der Küstenniederungen vor Überflutungen. Neu gegründete Deich- und Wasserverbände erhielten die Aufgabe, die Deiche zu unterhalten und die Niederungsentwässerung zu sichern. Im Jahr 1972 übernahm das Land Schleswig-Holstein die technische und finanzielle Verantwortung für diese Deiche. Nach Umwidmung zu Landesschutzdeichen gingen sie in Landeseigentum über. Der Probsteier Deich wurde vom Land auf einer Höhe von 4,6 m über NHN verstärkt. Der Deich konnte wegen der bestehenden Bebauung nicht nach hinten verstärkt werden. Die relativ niedrige Deichhöhe wurde auf Bitten der Örtlichkeit festgelegt, da der Seeblick der dahinterliegenden Bebauung aus touristischen Gründen nicht zu stark eingeengt werden sollte. Um trotzdem den im Generalplan Küstenschutz festgelegten Sicherheitsstandard eines Landesschutzdeiches zu erreichen, wurde die Außenböschung auf bis zu 1:25 abgeflacht. Weiterhin wurden Wellenbrecher vor dem Deich errichtet und mehrere Strandaufspülungen durchgeführt. Der Deich vor Dahme wurde ebenfalls vom Land verstärkt, da sie der Sturmflut von 1872 nicht standhalten würde. Der Deich erhielt eine Kronenhöhe von 4,8 m über NHN. Der sandige Kern wurde mit einer Kleischicht abgedeckt. In Dahme bestand die Herausforderung darin, die vorhandene touristische Infrastruktur auf dem Deichvorland sowie die dichte Bebauung und öffentliche Infrastruktur hinter dem Deich zu berücksichtigen. Bestehende Gebäude und Nutzungen haben Bestandschutz und die lokale Bevölkerung hätte ihre Entfernung nicht akzeptiert. Im Ergebnis wurde die seeseitige Böschungsneigung in Dahme steiler ausgeführt und auf einer Strecke von ca. 0,7 km wurde eine Hochwasserschutzwand auf dem Deich angelegt, um den vorgeschriebenen Schutzstandard zu erreichen.

Literatur

Hofstede, J.; Hamann, M.: The 1872 catastrophic storm surge at the Baltic Sea coast of Schleswig-Holstein; lessons learned? Die Küste, 92, 2022. https://doi.org/10.18171/1.092101.

Kannenberg, E.G.: Schutz und Entwässerung der Niederungsgebiete an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Die Küste, 7, 47-106, 1958/59.

Kiecksee, H.: Die Ostseesturmflut 1872. Schriften des Deutschen Schifffahrtsmuseums Bremerhaven, Heft 2. Westholsteinische Verlagsanstalt Boyens & Co., Heide in Holstein, 1972.

Reher, F.: Festschrift 50 Jahre Ostseebad Dahme. Ostholsteinische Zeitung, Neustadt in Holstein, 1931.

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Ostseesturmflut 1872