Navigation und Service

Ministerium für Energie­wende, Klimaschutz, Umwelt und Natur : Thema: Ministerien & Behörden

Tobias Goldschmidt

Minister für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur

"Dem Ausbluten der ländlichen Räume entgegentreten – Integration von Flüchtlingen stärken."

Rede von Minister Habeck zur Großen Anfrage zur Zukunft der Städte und des ländlichen Raumes

Letzte Aktualisierung: 20.01.2016

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit vielen Jahren bestimmt der demographische Wandel die politische Debatte über den ländlichen Raum. Wir werden weniger und der Altersdurchschnitt der Gesellschaft steigt. 2013 waren von 100 Menschen 40 über 64 Jahre, 2050 werden es im Deutschlanddurchschnitt 67 sein. Vor Beginn der verstärkten Zuwanderung durch die vielen Flüchtlinge war für Schleswig-Holstein ein Bevölkerungsrückgang bis zum Jahr 2025 allerdings von nur 43.000 Menschen prognostiziert. Das ist scheinbar eine handhabbare Zahl – gemessen an rund 2,8 Millionen Einwohnern.

Der Wandel erfasst das Land allerdings sehr unterschiedlich. Und daraus erwachsen die Herausforderungen. Einige Kommunen werden wachsen, andererseits haben ganze Landstriche einen massiven Bevölkerungsrückgang. Flensburg würde 6,7 Prozent mehr Einwohner bekommen, Kiel 4,1 Prozent, im Kreis Stormarn würden 5,3 Prozent mehr Menschen wohnen und in Pinneberg 2,2 Prozent. Dagegen verliert Neumünster 8,1 Prozent seiner Einwohner, Steinburg 7,6 Prozent und Dithmarschen 7,1 Prozent. Die Rückgänge an Kindern und Jugendlichen sind noch dramatischer. Sie betragen in Steinburg -30,2 Prozent, Nordfriesland -26,7 Prozent, Ostholstein -26,1 Prozent und Plön -25,8 Prozent - wohlgemerkt in nur 15 Jahren von 2010 auf 2025.

Die Situation in den Regionen ist also sehr unterschiedlich. Die Folgen und die sich daraus ergebenden Probleme für die Gesellschaft, für die Städte, Kommunen und Gemeinden hat die Landesregierung Schleswig-Holsteins in einer Großen Anfrage 2015 aufgearbeitet. Sie beantwortet Fragen wie: "In welchen Gebieten besteht nach Ansicht der Landesregierung die Gefahr für eine sogenannte Überalterung und was versteht die Landesregierung unter Überalterung?" oder "In welchen Gebieten ist nach Ansicht der Landesregierung in den nächsten Jahren mit einem ‚Ausbluten‘, also einer strukturgefährdenden Abwanderung zu rechnen?"

Diese Fragen stellen sich noch immer – aber vor völlig anderem Hintergrund. 35.000 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr zu uns nach Schleswig-Holstein gekommen, möglicherweise müssen wir für die kommenden Jahre von ähnlich vielen ausgehen. Der demographische Wandel erscheint in einem anderen Licht. Dabei wird auch deutlich, dass die Zuwanderung – neben der ethischen Frage, ob es sich nicht schlicht gehört, Menschen, die vor Krieg und Tod fliehen, aufzunehmen – nicht nur Last, sondern vor allem auch Nutzen für die Gesellschaft bringen kann.

Das konservative ifo-Institut hat errechnet, dass Deutschland 32 Millionen Zuwanderer bis 2035 braucht, wenn die Relation von 14- zu 65-Jährigen stabil bleiben soll. Bezogen auf Europa und das Jahr 2013 müsste die Zuwanderung 7-8-mal höher sein, als sie es in der Vergangenheit war. Wirtschaftsstudien aus den USA, etwa von Goldman, sagen unverblümt: "Diese Immigration ist exakt das, was Europa braucht." Sie weisen nach, dass die Jobs, die dauerhafte Beschäftigung und prosperierende Startups schaffen, überdurchschnittlich von Zuwanderern kommen und diejenigen, die verloren gehen, von "Einheimischen". "Die Kernfrage ist", so Goldman, "kann die Zuwanderung die Demographie verändern?"

Die Antwort muss politisch gegeben werden. Wir können die Frage verneinen und weiter mit den alten Statistiken und Prognosen, weiter mit der Annahme einer schrumpfenden Bevölkerung arbeiten und unterstellen, dass weniger Menschen zu uns kommen. Die logische Konsequenz ist dann aber, dass auf dauerhaften Aufenthalt angelegte Integration – mit Sprachkursen, Arbeitsmarktzugang oder Ausbildung – wenig Sinn macht. Es bedeutet auch, Fachkräftemangel zu akzeptieren, die Überalterung der Gesellschaft hinzunehmen und nein zu den Chancen für den ländlichen Raum zu sagen. Wir können die Frage aber auch bejahen und die Debatte mit neuen Vorzeichen versehen. Das Jahr 2015 könnte dann ein erster Schritt gewesen sein, einer weiteren Überalterung der Gesellschaft, einem Ausbluten der ländlichen Räume entgegenzutreten.

Aber er könnte es nur sein, wenn wir jetzt die richtigen strategischen Entscheidungen treffen. Von alleine löst die Zuwanderung kein einziges Problem, erst recht nicht das demographische. Im Gegenteil: Die Konfliktlage wird sich noch verschärfen, wenn wir es laufen lassen. Denn die Flüchtlinge werden sich, wenn die Residenzpflicht erloschen ist, verhalten, wie die Deutschen auch. Sie werden dahin gehen, wo Arbeit ist und wo sie die besten Chancen für die besten Lebensumstände ihrer Familien haben. Wenn Hintertupfinger nicht mehr in Hintertupfingen leben wollen, wieso sollten es dann die Flüchtlinge tun? Auch sie werden abwandern und in Städte ziehen – wenn wir nicht Anreize schaffen, die den ländlichen Raum für sie attraktiv machen. Ohne politische Einflussnahme werden also absehbar die vielen Menschen, die neu zu uns gekommen sind, die Wanderungstendenzen noch verstärken. Mit der Folge, dass Wohnraum und Arbeit in den Städten noch knapper wird, während für den ländlichen Raum nichts gewonnen ist.

Es bedarf also eines Programms, das die Menschen in den Regionen hält und zwischen Land und Stadt so verteilt, dass der volkswirtschaftliche Nutzen möglichst groß ist. In einer liberalen Gesellschaft geht das nur unter Beachtung der Regeln der Gesellschaft – Recht und Gesetz – und – das ist eben auch eine Regel – durch Anreize der Freiheit und, um einen Begriff aus dem Edikt des Großen Kurfürsten von Potsdam von 1685 zur Hugenottenansiedelung zu verwenden, "privilegieren", also Förderungen, die die Menschen zu Mitgliedern unserer Gesellschaft machen. Das setzt an bei der gezielten Förderung von Frauen, der Integration von Kindern über eine stabile Bildungs-Sports-Freizeit-Struktur und endet – nach Köln – bei der Frage, ob unsere Anstrengungen ausreichen, aus Frustration und Geschlechterbildern, die nicht unsere sind, eine gefährliche Mischung werden zu lassen. Brauchen wir nicht eine spezielle Integrationsantwort für die vielen Männer? Auch muss man die Frage beantworten, wo und wie die Menschen ihre Religion ausleben können. Ich kenne aus der Praxis Beispiele für beides: Kleine Gemeinden, die sich mit der Unterbringung von Flüchtlingen überfordert fühlen, aber auch Bürgermeister, die gezielt und bewusst mehr Flüchtlinge aufgenommen haben, um ihren Schulstandort zu sichern. Ich weiß von syrischen Familien, die nichts lieber wollen, als in die Stadt zu ziehen und von solchen, die freiwillig zurückgekommen sind in eine 1.000-Einwohnergemeinde, weil sie sich dort so zuhause gefühlt haben.

Das gute an einer Demokratie ist, dass man sich entscheiden kann. Beide Antworten können gegeben werden. Aus meiner Sicht spricht viel dafür, die Zuwanderung als Chance auch für den ländlichen Raum zu begreifen. Ich weiß aber auch, dass es die schwierigere und anspruchsvollere Antwort ist. Und letztlich ist es eine Antwort, die nicht allein auf der kommunalen Ebene oder der der Länder gegeben werden kann. Aber was wir tun können, sollten wir tun. Eine der flexibelsten, sehr bürgernahen Strukturen, die wir im ländlichen Raum haben, sind die AktivRegionen. Ich werde Vertreter der Aktivregionen und andere Akteure des ländlichen Raumes einladen, um diese und andere Fragen aufzugreifen und zu diskutieren. Die Fraktionen sind herzlich eingeladen, sich zu beteiligen. Die Stichworte Willkommenskultur, demographischer Wandel, Integration, Daseinsvorsorge, Inklusion, Qualifizierung, bürgerschaftliches Engagement, sind jetzt nahezu in jeder Integrierten Entwicklungsstrategie der AktivRegionen zu finden. Projekte in diesen Themenfeldern, die der Integration von MigrantInnen zugutekommen, sind somit in vielen AktivRegionen auf der Grundlage der bestehenden Strategien möglich.

Ziel ist es, ganz konkrete Projekte zu entwickeln. Denn Integration findet nicht per Unterschrift unter einer Vereinbarung statt, sondern im Konkreten. Ob sie gelingt, entscheidet sich an der Frage, ob Menschen in Sprachlosigkeit verharren oder Deutsch lernen, ob sie zum Nichtstun verdammt sind oder Arbeit und Beschäftigung finden, ob sie außen vor bleiben oder Freundschaften schließen, gemeinsam Fußball spielen, Kinder zur Schule gehen, ob muslimische Frauen einen Zugang zum gesellschaftlichen Leben haben – kurz: ob der ländliche Raum, die Dörfer und kleinen Städte hierfür Angebote bereithalten.

Ich weiß, dass die Integration von Flüchtlingen in den ländlichen Raum viel Mühe und einen langen Atem braucht, dass es Enttäuschungen geben wird, bei jenen, die hier leben und bei jenen, die zu uns gekommen sind. Aber wir haben ein Instrumentarium und Konzepte für den ländlichen Raum, und wir werden beides schärfen und weiterentwickeln. Und ich meine, dass wir – bei allen Schwierigkeiten – die Chancen, die die Integration von Migrantinnen und Migranten für die ländlichen Räume bedeutet, sehen müssen. Und wir sollten sie ergreifen.

Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU:
Zukunft der Städte und des ländlichen Raumes (Drucksache 18/3505) im Internet:

http://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl18/drucks/3500/drucksache-18-3505.pdf

Downloadgröße 36,86 MB!


Verantwortlich für diesen Pressetext:

Nicola Kabel | Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume | Mercatorstr. 3, 24106 Kiel | Telefon 0431 988-7201 | Telefax 0431 988-7137 | E-Mail:
Presseinformationen der Landesregierung finden Sie aktuell und archiviert im Internet unter |

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. Weitere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den folgenden Link:

Datenschutz

Pressemitteilungen