Kiecksee (1972): Sturmfluterlebnis auf der Insel Fehmarn am 13. November 1872. Aus Aufzeichnungen von Frau Caroline Hofmann, geh. Mohns. Von Wilhelm Mohns in: Fehmarnsches Tageblatt, 13. November 1930, Nr. 267.
"Wie immer traten wir Schulkinder von der sog. "Alten Tiefe" auch am 12. November vergnügt unseren Schulweg nach Meeschendorf an. Die Unterrichtsstunden waren aber noch nicht beendet, als uns unser Lehrer mitteilte, daß wir Kinder, die wir auf der "Alten Tiefe" wohnten, sofort den elterlichen Heimen zustreben sollten, da Hochwassergefahr drohe. Anstatt nun am höher gelegenen Strande entlangzugehen, schlugen wir ohne weitere Überlegung den Rückweg über Sahrensdorf ein und verfehlten somit unsere Väter, die uns schon entgegengekommen waren, stieg doch das Wasser rapide. Als wir hinter Sahrensdorf bei den tieferliegenden Wiesen anlangten, glichen diese schon einem einzigen See und war die letzte Wegstrecke vollkommen überschwemmt. Die Tränen rollten uns über die roten Kinderwangen, standen wir doch ratlos da. Wir älteren erkannten aber allzubald die Tatsache des weiteren Steigens des Wassers und faßten den Mut, die kleineren Geschwister und Schulkameradinnen auf unsere Schultern zu nehmen, um durchzuwaten. Die Last wurde uns aber schon nach Zurücklegung einer kurzen Strecke zu schwer, kam doch noch hinzu, daß unsere Kleidung anfing, das Wasser mehr und mehr aufzusaugen. Wir machten halt, und unsere Augen strahlten vor Freude als wir gewahrten, daß uns zwei Männer vom Strande aus mit Tüchern zuwinkten. Wir verharrten nun solange in unserer Stellung, bis unsere Retter, es waren unser Vater und der der Nachbarkinder, zu uns kamen und alsdann durch die immer höher steigenden Fluten trugen. Am sog. Haff angelangt, konnten wir trockenen Fußes zum Elternhaus gelangen.
Wir Kinderherzen ahnten aber noch nicht, daß die kommende Nacht zur Katastrophe werden sollte, schliefen wir doch abends glückselig ein. Die Eltern blieben natürlich wach. Gegen 4 Uhr morgens am 13. November wurden wir dann plötzlich von der weinenden Mutter aus unserem tiefen Schlaf geweckt. Das während der Nacht höher und höher gestiegene und vom Sturm gepeitschte Wasser drohte in das Haus einzubrechen. Die Sandsäcke vor Haus und Hoftür schienen bald überflutet zu werden. Als Zimmermeister besaß unser Vater ein kleines Holzlager, das sich unweit des Wohnhauses befand und zum größten Teil für das neu zu errichtende Lotsenhaus verwandt werden sollte. Um die wertvolleren Stücke zu retten, band unser Vater, soweit für ihn erreichbar, die Hölzer an den Pfählen unserer Gartenumzäunung fest. Aber diese so unendlich mühevolle Arbeit war schon nach geraumer Zeit umsonst. Das bekannte Schillersche Wort: „Denn die Elemente hassen das Gebild der Menschenhand“, fand hier eine Bestätigung. Der orkanartige Sturm nahm an Heftigkeit zu, das Wasser stieg höher und höher, und gegen 8 Uhr morgens drückten die vom Sturm getriebenen Wellen Türen und Fenster ein. Nun galt es, die großen schweren Hölzer, die gegen das Mauerwerk (Fachwerk) geschleudert wurden, abzuwenden. Ein schweres Ringen, kaum auszudenken, und doch blieb nach mühevoller Arbeit die menschliche Hand Sieger. Wir Kinder hatten Zuflucht auf dem ziemlich dunklen Hausboden gesucht und ahnten kaum, in welcher großen Lebensgefahr wir uns befanden.
Das Wasser im Hause hatte mittlerweile die Höhe von einem Meter erreicht, während unser Vater in einem Zimmer damit beschäftigt war, die vorhandenen Silbersachen zusammenzuraffen, um diese wenigstens in letzter Minute in Sicherheit zu bringen. Nun aber war der Fußboden vom Wasser gehoben und die eingeklinkte Tür im Rahmen festgeklemmt und unser Vater im Zimmer eingeschlossen. Kein Werkzeug zur Hand, um die Tür einschlagen zu können, ein Gegenstemmen unter äußerster Kraftanwendung erfolglos. Durch die von den Wellen eingeschlagenen Fenster entweichen war unmöglich, ein entsetzlicher Gedanke, von den vom Sturme gepeitschten Fluten verschlungen zu werden. Durch das winzige kleine Fenster, dasjenige zur Diele, zu schlüpfen, war auch aussichtslos, ja unmöglich, daß sich der Körper eines Erwachsenen hindurchzuarbeiten vermochte. Dies bedeutete augenblicklich jedoch die einzige Möglichkeit, sich aus dieser schrecklichen Situation zu befreien. Schnelles Handeln war am Platze, noch gab der Wasserstand das kleine, höher gelegene Fenster frei und schon baumelte der Körper unseres Vaters in der Fensteröffnung. Die schwangere Mutter, kaum die Nässe und die Kälte an ihrem Körper verspürend, stand schon bereit, Hilfe zu leisten, soweit es in ihren Kräften lag. Die eine Hand das Treppengeländer fest umklammert, die andere Vaters Hand ergriffen, um mit angespanntestem Kräfteaufwand zu versuchen, ihren Mann durch die Fensteröffnung zu zerren, und es gelang. Wie war dies möglich?! Mir wird es ewig ein Rätsel bleiben. Unsere Eltern kamen alsdann zu uns herauf, da unten in den Räumlichkeiten nichts mehr zu retten war.
Wie glücklich waren wir Kinder, daß unsere Eltern nun bei uns blieben. Ziege und Katze befanden sich ebenfalls auf dem Boden. Mittags wurde die Ziege gemolken, Brote hatten wir zwei. Die Flut stieg höher und höher. Unser Vater stand auf der Treppe und fischte schwimmende Gegenstände auf, so auch meine Bibel. Von dem Mauerwerk schien schon sehr vieles eingedrückt zu sein. Durch die Kraft der Wellen wiegte das Hauswie ein Kahn hin und her und drohte in sich zusammenzustürzen. Plötzlich ein Krachen und lautes Getöse - rettungslos verloren! - nein, gottlob, nur der Schornstein stürzte ein. Würde das Gerippe unseres Hauses weiterhin dem Element Trotz bieten? Fort mit dem Gedanken, daß es wie ein Kartenhaus jeden Augenblick zusammenklappen könne!
Und wie ein Wunder ließ im Verlaufe der nächsten Stunden der Sturm nach; das Wasser fiel, der schwarzbewölkte Himmel wurde heller, der Mond warf Lichtstreifen auf das Zerstörungswerk. Die Schreckensnacht vorüber Dankgebete stiegen gen Himmel. Wir legten uns schlafen, wurden aber alsbald wieder durch menschliche Rufe aufgeschreckt, es waren unser Nachbar und der Lotsenknecht, die in großen Wasserstiefeln steckten. Wir stiegen die Treppe, die an die Dachsparren gebunden und somit nicht fortgeschwommen war, hinunter, und nun ging es zu unseren Nachbarn, deren Haus nicht so arg mitgespielt war. Am nächsten Morgen besahen wir uns sogleich unser Wohnhaus – eine Trümmerstätte. Wir standen vor dem Nichts. Wo das Holzlager, wo der Kornspeicher, wo das Mobiliar? Aus dem benachbarten Sahrensdorf wurde uns warmes Essen und Kaffee gebracht. Wir fanden zunächst bei Verwandten in Burg Unterkunft. Das Suchen am nächsten Tage nach fortgeschwemmten Sachen an der holsteinischen Küste verlief ergebnislos. Unsere schwere eichene Truhe, sog. Lade, voll von Leinenwäsche, war bei Alsen angetrieben. Durch die vorgefundenen Familienpapiere konnte uns dieser große Koffer wieder zugestellt werden. Der Inhalt war gewaschen und geplättet, nicht ein einziges Stück Wäsche fehlte.
Unter Verwendung der brauchbaren Reste des zerstörten Hauses wurde auf der "Neuen Tiefe" eine neue Wohnstätte errichtet. Unser Vater sah durch den erlittenen großen Verlust sein Handwerk begraben und ging mit neuem Mut an neue Aufgaben, die die Not der Zeit ihm gestellt hatte. Er ergriff den Gedanken, Badekarren zu bauen auf eigene Rechnung und somit wurde 1874 der Grundstein zum Badeleben gelegt.
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Das Museum Eckernförde hat ein informatives Audio-Angebot mit weiteren Augenzeugenberichten zur Ostseesturmflut 1872 erstellt. Es kann hier im Internet aufgerufen werden.
Literatur
Kiecksee, H.: Die Ostseesturmflut 1872. Schriften des Deutschen Schifffahrtsmuseums Bremerhaven, Heft 2. Westholsteinische Verlagsanstalt Boyens & Co., Heide in Holstein, 1972.