Es gilt das gesprochene Wort
"Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren
Land- und Ernährungswirtschaft versorgen uns mit Nahrungsmitteln und leisten einen wichtigen Beitrag der Wirtschaftsleistung Schleswig-Holsteins. Darüber hinaus prägen sie das Bild, das wir von Schleswig-Holstein haben, und auch das Bild, das sich viele Menschen südlich der Elbe von unserem Land machen. Unsere Landschaften, Knicks und Seen, Watt und das Meer, Äcker und Wiesen und Weiden sie werden durch landwirtschaftliche Betriebe und Bauern geprägt, genauso wie das Bild von Lübeck durch das Marzipan, die Westküste durch Krabben und Flensburg durch das "Bier mit dem Plopp". Land- und Ernährungswirtschaft prägen die Identität dieses Landes.
Mehr als 22.000 Menschen sind in der Ernährungswirtschaft beschäftigt und die Landwirtschaft gibt 45.000 Menschen Arbeit. Rein rechnerisch betrachtet ernährt ein Landwirt heute 142 Menschen. Der Anteil der Bruttowertschöpfung der Land- und Ernährungswirtschaft in Schleswig-Holstein bei liegt bei rund 4 Prozent etwa zu gleichen Teilen. Die gesellschaftliche Bedeutung der Land- und Ernährungswirtschaft geht aber weit über diese Zahlenwerte hinaus. Sie berührt grundlegende Fragen:
Unter welchen Bedingungen werden Lebensmittel produziert und konsumiert?
Wie können Produzenten ihre Lebensgrundlage dauerhaft sichern?
Wie sollen sie dabei den Spagat zwischen globalem und regionalem Wirtschaften schaffen?
Jüngst saß ich mit maßgeblichen Vertretern der schleswig-holsteinischen Ernährungswirtschaft zusammen und wir berieten über diese Fragen. Wir sprachen darüber, dass Verbraucherinnen und Verbraucher immer mehr Wert auf regionale und tiergerecht erzeugte Produkte legen. Wenn wir uns einen Sonntags-Frühstückstisch vorstellen, dann wollen immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher gerne wissen, was genau in unserem Essen drinsteckt, woher die Zutaten kommen und wie die Produkte hergestellt wurden.
Alle politischen Überlegungen zur Perspektive, Zielsetzung und Unterstützung der Land- und Lebensmittelwirtschaft müssen von den ökonomischen Grundkonstanten ausgehen. Diese scheinen mir in vielen Debatten nicht hinreichend durchleuchtet zu sein. Sie lauten: Günstige und hochwertige Nahrungsmittel sind die Bedingung für gesellschaftlichen Wohlstand. Nur wer nicht fast sein gesamtes Einkommen für Essen ausgibt, kann auch noch Geld für Bildung, Kultur, Gesundheit und ja, auch Konsum ausgeben. Damit Nahrungsmittel preisgünstig sind, müssen die Produktionsmethoden immer effektiver werden, die Ackerschläge und Ställe größer, die Verfahren standardisiert, die Praktiken spezialisiert. Wer investiert, braucht höhere Gewinne. Also muss er weiteres Land pachten oder kaufen. Die Konsequenz ist ein Strukturwandel, der alle 23 Jahre die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe durch zwei teilt. Die Zahl der Bauernhöfe in Schleswig-Holstein hat sich in den letzten 20 Jahren von ungefähr 30.000 auf jetzt 15.000 Betriebe halbiert. Halbiert! 50 Prozent der Bauernhöfe in unserem Land sind weg. 1999 zählten wir noch 11.000 Rinder haltende Betriebe zwischen Nord- und Ostsee, 2010 nur noch 7.900. Bei der Milchviehhaltung ist die Zahl von 7.500 Betrieben in 1999 auf 5.000 in 2010 zurückgegangen. Das heißt, in zehn Jahren haben wir einen Rückgang von einem Drittel der Betriebe in Schleswig- Holstein erlebt.
Der Strukturwandel hat allerdings dazu geführt, dass der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel am Haushaltseinkommen seit Jahren abnimmt. Der "durchschnittliche" Haushalt (4-Personen-Arbeitnehmer-Haushalt mit mittlerem Einkommen) gab Anfang der 70er Jahre im früheren Bundesgebiet bei 19 % seines ausgabefähigen Einkommens für Nahrungsmittel aus, heute sind es 11,7 %.
Damit gehört Deutschland zu den fünf Nationen, die am wenigsten des privaten Haushaltsbudgets für Nahrungsmittel ausgaben. Und exakt das ist die ökonomische Bedingung für unseren Wohlstand. Hinter der Einkommenssteigerung bleiben die Nahrungsmittelpreise zurück. Seit 1950 sind die Löhne um das einundzwanzigfache, die Brotpreise um das zehnfache gestiegen und die Getreidepreise unverändert geblieben. Der Industriearbeiter kann sich also für seinen Stundenlohn heute mehr als doppelt so viel Brot kaufen wie noch vor gut 60 Jahren – das ist gut für den Industriearbeiter. Aber der Landwirt erlöst nur 6 bis 7 Prozent bei Brot. Demgegenüber waren es 1950 entsprechend noch zwei Drittel des Brotpreises. Wären die Weizenpreise seit 1950 genauso stark gestiegen wie die Inflationsrate, dann könnten die Erzeuger für einen Doppelzentner heute etwa 86 Euro erlösen. Tatsächlich bekamen sie zur diesjährigen Ernte nur noch 10 Euro.
1970 musste man für ein Kilo Rindfleisch 72 Minuten arbeiten, heute sind es 30 Minuten, für ein Kilo Schweinefleisch waren es 96 Minuten, heute 23, für einen Liter Milch 9 Minuten, heute 3.
Von 1 Euro Verbraucherausgaben für Nahrungsmittel erhält der Landwirt heute nur noch 21 Cent, d.h. der Anteil der landwirtschaftlichen Verkaufserlöse an den Verbraucherausgaben für Nahrungsmittel (inländischer Herkunft) liegt bei 21 %. Anfang der 70er Jahre lag der entsprechende Anteil mit 47,5 % fast doppelt so hoch.
Mit anderen Worten: Die Lebensmittel werden von Jahr zu Jahr buchstäblich weniger wert.
An genau diesem Punkt hat ein Umdenken begonnen, dass der wahre Hintergrund der Debatten über Nahrungsmittel und landwirtschaftliche Produktion ist. Verbraucher wollen nicht nur günstige und viele Nahrungsmittel, sondern auch solche, deren ethische Qualitäten hoch sind. Die Intensivierung der Produktion hat nichts mit bösen Bauern zu tun. Sie ist gesellschaftlich getrieben. Aber sie hat ohne Frage zu Problemen geführt, die nun die Gesellschaft umtreibt:
Wie schützen wir Gewässer und Umwelt?
Wie geht es den Tieren, die wir halten, um sie zu essen?
Welche Effekte hat unsere Produktion auf Böden, Klima oder biologische Vielfalt?
Der entscheidende Punkt ist, dass diese Fragen nicht gegen die Landwirtschaft gerichtet sind, sondern sich hier offensichtlich ein neuer Markt auftut. Während die rein quantitative Ausrichtung der Produktion das Überleben vieler Betriebe gefährdet, eröffnet sich hier langsam ein zweiter Markt, der gesellschaftliche Werte in Preisvorteile übersetzen kann.
92 Prozent aller Befragten in Deutschland bevorzugen Lebensmittel, die aus der Region stammen – egal ob aus konventionellem oder ökologischem Anbau –. Akzeptiert werden von ihnen Preisaufschläge bis zu 15 Prozent.
Damit meine ich nicht, dass unsere Land- und Ernährungswirtschaft nur noch regional vermarkten soll. Natürlich werden wir auf einem so hochproduktiven Standort wie Schleswig-Holstein auch weiterhin Weizen für den globalen Markt produzieren, genauso wird auch Milchpulver aus Schleswig-Holstein weiter weltweit nachgefragt werden. In- und Exporte von Rohstoffen und Fertigprodukten gehören zur schleswig-holsteinischen Ernährungswirtschaft, die Mandeln für das Lübecker Marzipan stammen ja auch nicht aus Schleswig-Holstein und so gut der Weißwein aus Ostholstein schmeckt, der Rotwein aus Frankreich schmeckt auch gut. Und Kaffee, Tee und Orangensaft wollen wir ja vielleicht auch künftig auf unseren Frühstückstischen.
Lübecker Marzipan, Schwartauer Konfitüre, Haferflocken aus Elmshorn sie werden gerne gekauft, weil sie besonders gute Qualität haben, weil hier das Know-how ist, weil sie ein Begriff, eine Marke sind.
Vor diesem Hintergrund muss sich eine politische Strategie auf die Prozesse konzentrieren, die über die reine Wirtschaftlichkeit hinausgehen. Wirtschaftlichkeit wird am Markt und durch den Markt erzielt. Die politische Aufgabe muss sein, neue Absatzformen entwickeln zu helfen, bzw. die Prozesse zu unterschützen, die ein gesellschaftlich gewolltes Gut hervorbringen, das aber in der Entlohnung noch nicht seinen Niederschlag findet, etwa Tierschutz.
Ich bin der festen Überzeugung, dass eine nachhaltige Stärke der Ernährungswirtschaft Schleswig-Holsteins zukünftig weiter zunehmend bei solchen neuen Qualitätsgütern, inklusive des Mehrwertes „Identität durch Herkunft“ liegen wird. Hierauf werden sich Land- und Ernährungswirtschaft einstellen müssen. Verbraucherinnen und Verbraucher werden es mehr und mehr honorieren. Die politische Aufgabe ist es, die Rahmensetzungen so zu verändern, dass die Anpassungsprozesse gestaltet werden können und nicht Betriebe überfordert werden. Als Beispiel lassen Sie mich die Umschichtung von Geldern aus der ersten Säule in die zweite nennen oder eine Degression in der Auszahlung, die die ersten Hektare, also kleinere Betriebe, stärker fördert als große.
Auch die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ist langfristig sicherzustellen. Die Landesregierung hat daher gemeinsam mit den Kammern, Hochschulen, Gewerkschaften, kommunalen Landesverbänden und weiteren Akteuren die Fachkräfteinitiative „Zukunft im Norden“ ins Leben gerufen. Neben Unterstützungsmaßnahmen mit Hilfe der Strukturfonds der Europäischen Union, die zum Aufbau eines Kompetenznetzwerkes Fachkräftesicherung und Weiterbildung führen werden, setzt diese Initiative auch auf Branchengespräche mit z.B. der Ernährungswirtschaft.
Ein weiteres politisches Ziel ist es, die Verarbeitungstiefe hier im Land zu erhöhen. Wir haben starke Lebensmittelproduzenten und eine starke Landwirtschaft, aber die Verknüpfung zwischen Ernährungs-und Landwirtschaft ist nur in sehr geringem Maße ausgeprägt und im großen Maßstab gar nicht genutzt. Selbstverständlich kann Politik das nicht regeln, aber vielleicht doch anregen. Hafer für Flocken, Gerste für Bier, Erdbeeren für Marmelade, das wächst ja alles hier. Vielleicht gelingt es ja, durch eine engere Absprache, noch stärker Nahrungsmittel aus dem Land Schleswig-Holstein für verarbeitete Lebensmittel aus dem Land Schleswig-Holstein einzusetzen. Ich habe mir vorgenommen, solche Gesprächsrunden zu initiieren. Das wäre ganz gewiss auch ein Ansatz um die regionale Wertschöpfung zu erhöhen.
Eine Reihe von regionalen Vermarktungskampagnen, Nordbauern, Landwege und "FEINHEIMISCH – Genuss aus Schleswig-Holstein e.V." zeigen, wenn auch im kleinen Maßstab, wie es gehen kann. Sie sind neue Netzwerke von agrarischen Erzeugern und Manufakturen, Küchenchefs und Gastronomen, privaten Mitgliedern und gewerblichen Förderern in Schleswig-Holstein, die Regionalität, Qualität und die Vielfalt der Lebensmittel aus Schleswig-Holstein in den Mittelpunkt der Aktivitäten stellen.
Darüber hinaus bestehen in unserem Land Branchennetzwerke wie food Regio im Raum Lübeck und das Kompetenznetzwerk Ernährungswirtschaft Schleswig-Holstein (KNE SH). Geplant ist die Weiterentwicklung der beiden Ernährungsnetzwerke zu einem landesweiten Ernährungscluster unter Federführung der Wirtschaftsförderung Lübeck GmbH, möglichst unter weitgehender Integration des Clusters KNE SH. Ziel ist eine wertschöpfende Vernetzung untereinander und eine Steigerung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit.
Drittens ist politisch zu berücksichtigen, dass die Land-und Ernährungswirtschaft in Schleswig-Holstein eng verflochten ist mit anderen Wirtschaftszweigen wie der Energieversorgung, dem Maschinenbau und Dienstleistungssektor und insofern in einem gesamtpolitischen Rahmen gedacht werden muss. Durch die Inanspruchnahme der Flächen durch Infrastrukturprojekte (Straßenneu- und -ausbau, Stromtrassen, Windkraftanlagen, Gewerbegebiete), durch Anreize des EEG für Maisanbau aus den vergangenen Jahren wie aber auch durch steigende Erzeugerpreise, sind die Preise für Pacht- oder Kaufflächen teilweise dramatisch gestiegen. Für viele wirtschaftende Betriebe, gerade wenn sie extensiver arbeiten, sind solche Preise kaum noch zu bezahlen. Die Landesregierung beobachtet den Markt und ist mit den landwirtschaftlichen Verbänden im steten Austausch darüber. Sie hat die Prämien für den Ökolandbau oder Agrar-Umweltmaßnahmen bereits entsprechend erhöht. Die Landesregierung hat „Flächenverbrauch“ und Maßnahmen dagegen als Schwerpunkt in ihrem Regierungsprogramm festgehalten. Ich weiß, dass von Nutzerseite dann oft genug auf die Kompensationsmaßnahmen geschimpft wird. Allerdings ist es wichtig, Ursache und Wirkung nicht zu verkennen. Täglich werden in Schleswig-Holstein 3,5 Hektar aus der landwirtschaftlichen Nutzung genommen, durch Versiegelung oder Baumaßnahmen. Denken wir das einfach weiter, dann haben wir eine Landschaft, die am Ende nur noch aus Gewerbegebieten, Autobahnen, Stromtrassen und einer dazwischen gelegenen Landwirtschaft weniger großer Betriebe mit monotonen Äckern und wenn überhaupt intensivsten Grünland, das ist sicher nicht mehr das Land, zu dem wir Heimat sagen wollen. Wir werden diese Debatte sicherlich noch zur Genüge bei der Novellierung des Landesnaturschutzgesetzes führen, die ja sozusagen das Gegenwicht zu der immer stärkeren ökonomischen Nutzung darstellt.
Heute geht es mir darum, festzuhalten, dass erstens die politische Einbindung der Land- und Ernährungswirtschaft in andere Politikfelder die oft gehörte Forderung schlicht leer laufen lässt, dass Politik sich aus dem Marktgeschehen raushalten soll, zweitens, dass das Ziel sein muss, ökonomische Prozesse zu entwickeln, die die simple Aufgabenteilung, hier wird intensiv gewirtschaftet, dort dafür geschützt, aufhebt. Wir brauchen am Ende Produktionsprozesse, die den Schutzgedanken in sich selbst verwirklichen. Und zwar sowohl in der Landwirtschaft wie auch in der Ernährungswirtschaft – es gilt für die gesamte Produktionskette. Mehr Nachhaltigkeit kann dazu beitragen, diesen Wirtschaftszweig fortwährend zu stärken. Damit auch 2030 die landwirtschaftliche Produktion in der unternehmerischen Verantwortung der Landwirte liegt, damit auch 2030 die Ernährungswirtschaft wettbewerbsfähig bleibt.
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