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Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht und Sozialgerichte : Thema: Gerichte & Justizbehörden

Aufgrund von beruflicher Überforderung eintretende gesundheitliche Beeinträchtigungen können eine die Sperrzeit beim Arbeitslosengeldbezug verkürzende Härte darstellen, auch wenn sie nicht ausreichen, um als wichtiger Grund für die Aufgabe des Beschäftigungsverhältnisses angesehen werden zu können

Letzte Aktualisierung: 25.11.2021

Sozialgericht Lübeck, Urteil vom 10. Juli 2019, S 47 AL 211/16 (PDF, 133KB, Datei ist barrierefrei)

Die wirtschaftliche Existenzsicherung von Arbeitnehmern nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes wird in unserem Sozialstaat zunächst durch die Gewährung des von der Bundesagentur für Arbeit ausgezahlten Arbeitslosengeldes gewährleistet. Die Regelungen dazu finden sich in den §§ 136 ff. Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III). Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, wer arbeitslos ist – also insbesondere nicht (mehr) in einem Beschäftigungsverhältnis steht –, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet hat und die gesetzliche Anwartschaftszeit erfüllt hat. Dafür ist im Grundsatz erforderlich, dass der Versicherte innerhalb der in § 143 SGB III geregelten Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis – regelmäßig also in einem Arbeitsverhältnis – gestanden hat. Die Sozialgerichtsbarkeit wird naturgemäß erst dann mit der Materie befasst, wenn es zwischen dem oder der Arbeitslosen und der Bundesagentur für Arbeit zum Streit über die (Nicht-) Gewährung von Arbeitslosengeld kommt.

Eine stetig sprudelnde Quelle solcher Streitigkeiten bilden Bescheide der Bundesagentur für Arbeit, mit denen diese gegenüber dem/der Versicherten den Eintritt einer Sperrzeit beim Arbeitslosengeld feststellt. Während der Dauer einer Sperrzeit ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld, so dass die arbeitslose Person für die Dauer der Sperrzeit kein Arbeitslosengeld ausgezahlt erhält. Mit der in § 159 SGB III geregelten Sperrzeit soll ein Fehlverhalten des Arbeitslosen gegenüber der Versichertengemeinschaft der Beitragszahler sanktioniert werden, wenn dieses für den Jobverlust ursächlich ist. Als Fälle des sanktionswürdigen Fehlverhaltens sieht das Gesetz die Aufgabe des Arbeitsverhältnisses durch den oder die Arbeitslose selbst (insbesondere im Wege der Eigenkündigung) an, ferner auch die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber/die Arbeitgeberin, wenn der Arbeitslose durch arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Arbeitgeberkündigung gegeben hat. Auch der Nichtantritt einer durch die Bundesagentur für Arbeit nachgewiesenen Beschäftigung und der fehlende Nachweis von Bewerbungsbemühungen eines Arbeitslosen stellen Gründe für den Eintritt einer Sperrzeit dar.

Verhält sich ein Versicherter, d.h. eine grundsätzlich über einen Arbeitslosengeldanspruch verfügende Person, wiederholt in der Weise fehlerhaft, dass Sperrzeit- bzw. Ruhenstatbestände verwirklicht werden, kennt das SGB III freilich eine noch schärfere Sanktion als das bloße, zeitlich begrenzte Ruhen des (Auszahlungs-) Anspruchs auf Arbeitslosengeld, nämlich den kompletten Verlust des aus einer bestimmten Anwartschaftszeit resultierenden Stammrechts. In einem solchen Fall geht der gesamte aus einer bestimmten Beschäftigungszeit resultierende Arbeitslosengeldanspruch unter. Darauf berief sich die Bundesagentur im folgenden Fall.

Der Fall

Die Klägerin, gelernte Bäckereifachverkäuferin, kündigte ihr Arbeitsverhältnis bei einer Bäckerei zum Ablauf des 15. September 2015 und meldete sich im Anschluss erst am 15. Oktober 2015 bei der Agentur für Arbeit, wo sie die Gewährung von Arbeitslosengeld beantragte. Mit zwei Bescheiden vom 11. November 2015, die die Klägerin nicht mit dem Widerspruch angegriffen hat und die deshalb bestandskräftig geworden sind, stellte die Agentur für Arbeit eine Sperrzeit wegen Eigenkündigung für den Zeitraum vom 16. September bis zum 8. Dezember 2015 und eine weitere Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitslosmeldung im Zeitraum vom 9. bis zum 15. Dezember 2015 fest. Bereits seit dem 1. Dezember 2015 arbeitete die Klägerin allerdings wieder in einem Schuhgeschäft. Diese Tätigkeit gab sie zum Ablauf des Monats Juli 2016 auf und begann am 1. August 2016 eine Tätigkeit in einem Call-Center. Dieses Beschäftigungsverhältnis endete bereits drei Tage später auf Grundlage eines Aufhebungsvertrages, den die Klägerin mit dem Betreiber des Call-Centers geschlossen hatte. Am 8. August 2016 meldete sich die Klägerin bei der beklagten Agentur für Arbeit arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld. Dabei gab sie an, den Aufhebungsvertrag geschlossen zu haben, weil sie schon in den ersten drei Tagen gemerkt habe, die Anzahl der werktäglich von dem Arbeitgeber erwarteten Telefonate nicht erfüllen und dem psychischen Druck, der im Hinblick auf das vorgegebene Arbeitspensum arbeitgeberseits auf sie ausgeübt worden sei, nicht standhalten zu können. Darauf lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld mit Bescheid vom 5. Oktober 2016 ab und stellte in dem Bescheid fest, dass der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld ganz erloschen sei, weil die Klägerin Anlass für den Eintritt von Sperrzeiten mit einer Gesamtdauer von über 21 Wochen gegeben habe (und über die dadurch eintretende Rechtsfolge des Anspruchsverlusts bereits in den Sperrzeitbescheiden vom 11. November 2015 schriftlich belehrt worden sei).

Der dagegen von der Klägerin eingelegte Widerspruch war nicht erfolgreich, obgleich die Klägerin im Widerspruchsverfahren vorbrachte, gezwungen gewesen zu sein, das Arbeitsverhältnis in dem Schuhgeschäft aufgrund gesundheitlicher Beschwerden aufzugeben; durch längeres Stehen leide sie an starken Gelenkschmerzen, weshalb sie auf eine sitzende Tätigkeit angewiesen sei. Das Arbeitsverhältnis zu dem Betreiber des Call-Centers habe sie aufgrund massiver psychischer Belastungen beendet; schon am ersten Arbeitstag habe man ihr dort eröffnet, dass sie zu wenig Telefonate führe und die geführten Gespräche zu kurz seien. Schon am Abend des ersten Arbeitstages habe sie Bauchschmerzen gehabt. Nach drei Tagen habe sie gewusst, die Anforderungen im Call-Center nicht erfüllen und den auf sie ausgeübten Druck der Geschäftsleitung nicht aushalten zu können.

Die Entscheidung

Vor dem Sozialgericht hatte die Klägerin, die mittlerweile zum 1. Dezember 2016 eine neue Arbeitsstelle gefunden hatte, in erheblichem Umfang Erfolg. Das Sozialgericht hat den Bescheid der Agentur für Arbeit vom 5. Oktober 2016 (und den anschließenden Widerspruchsbescheid) aufgehoben und die Arbeitsagentur verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom 15. September bis zum 30. November 2016 Arbeitslosengeld zu gewähren. Ein Verlust des Anspruchs der Klägerin auf Arbeitslosengeld sei nicht eingetreten, weil sich die Dauer der Sperrzeiten, deren Eintritt sie verursacht habe, nicht auf einen Gesamtzeitraum von mindestens 21 Wochen summiere. Insoweit seien zunächst die Sperrzeiten zu berücksichtigen, die die Agentur für Arbeit mit ihren Bescheiden vom 11. November 2015 festgestellt habe (zusammen 13 Wochen). Zu diesen Zeiträumen komme aufgrund des Abschlusses des Aufhebungsvertrages mit dem Betreiber des Call-Centers im August 2016 aber nur noch eine weitere Zeitspanne des Ruhens des Arbeitslosengeldanspruchs der Klägerin von sechs Wochen hinzu. Es sei zwar davon auszugehen, dass die Klägerin ihr Arbeitsverhältnis zu dem Call-Center-Betreiber im Rechtssinne selbst gelöst und dadurch zumindest grob fahrlässig ihre Arbeitslosigkeit ab dem 4. August 2016 herbeigeführt habe, ohne dafür einen wichtigen Grund gehabt zu haben. Ein wichtiger Grund ergebe sich insbesondere nicht aus der Überforderungssituation, in der sich die Klägerin in den ersten Tagen im neuen Job befunden habe. Denn das Bundessozialgericht (BSG) verlange für die Anerkennung von gesundheitlichen Gründen als wichtiger Grund, der die Lösung eines Beschäftigungsverhältnisses rechtfertigen könne, dass die aus den Verhältnissen am Arbeitsplatz resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen so schwerwiegend seien, dass dem/der betroffenen Arbeitnehmer(in) ein Festhalten am Beschäftigungsverhältnis objektiv nicht mehr zumutbar sei. Diese Schwelle sei hier – gerade auch unter Berücksichtigung des vom Sozialgericht eingeholten Berichts des die Klägerin behandelnden Hausarztes – aber noch nicht überschritten. Der behandelnde Arzt habe insoweit keine psychiatrische Diagnose gestellt, sondern nur allgemein von einer psychischen Überforderung der Klägerin gesprochen. Dies reiche nicht aus, um die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bereits nach drei Tagen als gerechtfertigt anzusehen.

Die daraus regelhaft folgende Sperrzeitdauer von zwölf Wochen verkürze sich jedoch im Falle der Klägerin auf sechs Wochen, weil der Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit unter Berücksichtigung der Umstände, die zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu dem Call-Center-Betreiber geführt hatten, für die Klägerin eine besondere Härte bedeutete. So habe sich die Klägerin der neuen Tätigkeit psychisch nicht gewachsen gefühlt und sei von ihrem Arzt darin bestärkt worden, das Arbeitsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen aufzugeben. Unter weiterer Berücksichtigung, dass die Klägerin gerade erst zum Ablauf des Juli 2016 aufgrund ihrer Schmerzerkrankung – ebenfalls auf ärztliches Anraten – ihre Tätigkeit in dem Schuhgeschäft aufgegeben habe, führe dies zur Bejahung einer besonderen Härte.

Aus der infolge des Abschlusses des Aufhebungsvertrages mit dem Betreiber des Call-Centers eingetretenen sechswöchigen Sperrzeit folge einerseits, dass der Arbeitslosengeldanspruch der Klägerin für eben sechs Wochen, d.h. vom 4. August bis zum 14. September 2016, ruhe. Für diesen Zeitraum konnte die Klägerin kein Arbeitslosengeld erhalten, insoweit blieb ihre Klage erfolglos. Andererseits folge daraus aber auch, dass sich die von der Klägerin verursachten Sperrzeiten insgesamt lediglich auf eine Dauer von 19 Wochen summierten und ein vollständiger Untergang ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld deshalb nicht eingetreten sei. Daher sei der Klägerin ab dem 15. September 2016 (und bis zur Aufnahme der neuen Beschäftigung am 1. Dezember 2016) Arbeitslosengeld zu gewähren.

Das Recht

Von besonderer Bedeutung war hier § 159 SGB III. Dort ist (im ersten Satz des ersten Absatzes) bestimmt, dass der Anspruch – auf Arbeitslosengeld – für die Dauer einer Sperrzeit ruht, wenn sich die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer versicherungswidrig verhalten, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. In Satz 2 des ersten Absatzes des § 159 SGB III sind dann verschiedene Sperrzeittatbestände aufgeführt, von denen hier gleich der erste (Nr. 1) von der Klägerin verwirklicht war. Danach liegt versicherungswidriges Verhalten vor, wenn die oder der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst hat. Hierunter fällt nicht nur die Eigenkündigung, sondern auch der Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit dem Arbeitgeber, auch wenn dies keine einseitige Lösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer darstellt, sondern eine vertragliche und mithin zweiseitige Aufhebung des Arbeitsverhältnisses unter Beteiligung des Arbeitgebers. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Aufhebungsvertrag nicht allein der Abwendung einer anderenfalls durch den Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung dient (vgl. BSG, Urteil vom 12. Juli 2006, B 11a AL 47/05 R, NJW 2006, 3514 ff.). Bei der Prüfung, ob der Abschluss eines solchen Aufhebungsvertrages durch einen wichtigen Grund im Sinne des § 159 Abs. 1 Satz 1 SGB III (hier: in Gestalt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Situation am Arbeitsplatz) gerechtfertigt ist, gilt ein objektiver und zudem auch vergleichsweise strenger Maßstab, wie das Sozialgericht in der hier vorgestellten Entscheidung unter Verweis auf ein Urteil des BSG vom 5. Juni 1997 (7 RAr 22/96, NZS 1998, 136 ff.) ausgeführt hat.

Die Dauer der Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe beträgt nach § 159 Abs. 3 Satz 1 SGB III grundsätzlich zwölf Wochen. Unter bestimmten Voraussetzungen verkürzt sich die Sperrzeit nach Satz 2 der Vorschrift. Das Sozialgericht hat hier überzeugend auf § 159 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 lit. b) SGB III abgestellt, wonach sich die Sperrzeit auf sechs Wochen verkürzt, wenn eine Sperrzeit von zwölf Wochen für die arbeitslose Person nach den für den Eintritt der Sperrzeit maßgebenden Tatsachen eine besondere Härte bedeuten würde. Eine solche Härte war hier aufgrund der psychischen Überforderung der Klägerin an ihrem Arbeitsplatz im Call-Center, die bereits zu organischen Symptomen geführt hatte, zu bejahen.

Aufgrund dieser Sperrzeitverkürzung war der von der Beklagten fälschlich festgestellte komplette Verlust des aus ihren bis dato zurückgelegten Anwartschaftszeiten resultierenden Anspruchs der Klägerin auf Arbeitslosengeld tatsächlich nicht eingetreten. § 161 Abs. 1 Nr. 2 SGB III bestimmt, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld erlischt, wenn die oder der Arbeitslose Anlass für den Eintritt von Sperrzeiten mit einer Dauer von insgesamt mindestens 21 Wochen gegeben hat, über den Eintritt der Sperrzeiten schriftliche Bescheide erhalten hat und auf die Rechtsfolgen des Eintritts von Sperrzeiten mit einer Dauer von insgesamt mindestens 21 Wochen hingewiesen worden ist. Dabei werden Sperrzeiten berücksichtigt, die in einem Zeitraum von zwölf Monaten vor der Entstehung des Anspruchs eingetreten sind. Mit der Verkürzung der dritten Sperrzeit von zwölf auf sechs Wochen hatte die Klägerin innerhalb des Jahreszeitraums aber nur 19 Wochen Sperrzeiten angesammelt.

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