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Ministerium für Allgemeine und Berufliche Bildung,
Wissenschaft, Forschung und Kultur
: Thema: Ministerien & Behörden

Karin Prien

Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur

Rede der KMK-Präsidentin Karin Prien bei der Veranstaltung "Mölln 92/22"

7. Dezember 2022, Landesvertretung Schleswig-Holstein, Berlin

Letzte Aktualisierung: 08.12.2022

Sehr geehrter Herr Arslan,

sehr geehrte Frau Panagiotaki,

sehr geehrte Frau Kleffner,

meine Damen und Herren,

 

jedes Opfer hat einen Namen, ein Gesicht und eine eigene Geschichte.

 

Bahide Arslan - 51Jahre, kam als junge Frau als sogenannte „Gastarbeiterin“ von der türkischen Schwarzmeerküste nach Deutschland. Sie arbeitete in Gastronomiebetrieben, als Erntehelferin und zeitweise als Kleinunternehmerin. Am 23. November 1992 verbrannte sie bei dem Versuch, ihre Enkeltöchter zu retten. 

Yeliz Arslan – ein Mädchen, 10 Jahre jung, hatte ihr Leben noch vor sich. Die Grundschülerin konnte noch lebend aus dem brennenden Gebäude gerettet werden, bevor sie an ihren Verletzungen und einer Rauchvergiftung starb. 

Ayşe Yılmaz, ihre 14-jährige Cousine, war aus der Türkei zum Familienbesuch in Deutschland. Auch sie starb an ihren Verletzungen und einer Rauchvergiftung. 

Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz – diese drei Namen stehen für die Einwanderungsgeschichte der vielen sogenannten „Gastarbeiter“, die das deutsche Wirtschaftswunder mit ermöglicht haben.

 

Und sie stehen für deren Kinder und Enkel, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, die hier ihr Zuhause haben. 

Aber ihre Namen stehen auch für das unfassbare Leid einer Familie; für die furchtbaren, rassistischen Morde von Mölln. Und sie erinnern uns daran, dass Rassismus in unserer Gesellschaft immer vorhanden war und ist – heute, genauso wie vor 30 Jahren. 

Diesen Rassismus beim Namen zu nennen und ihm immer wieder entgegenzutreten, ihn im Keim zu ersticken, das ist unsere Pflicht gleichermaßen als demokratische Gesellschaft und als Rechtstaat. 

Dazu brauchen wir auch eine wirksame Erinnerungskultur und eine starke Zivilgesellschaft. 

Wir müssen aus unserer Vergangenheit und aus unseren Fehlern lernen. 

Ja, es wurden nach den Morden von Mölln viele Fehler gemacht. 

Die Reaktionen unmittelbar nach der feigen Tat, in der Anfangszeit, sind aus heutiger Zeit oft nicht nachvollziehbar. 

Auch danach gab es Fehler im Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen. Lange Zeit wurden sie zu wenig in den Prozess des Gedenkens und Erinnerns einbezogen. 

Schlimmer noch: sie wurden zu wenig gehört und zu wenig gesehen.

Der heutige Abend soll daher auch ein Versuch der Wiedergutmachung sein. 

Wir strecken den Opfern und ihren Angehörigen die Hand aus. Wir stellen Fragen, hören zu und überlegen, wie wir den weiteren Weg gemeinsam gehen können. 

Wie können wir unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur weiterentwickeln? Wie können wir die Perspektive der Überlebenden und der Familien der Opfer stärker einbeziehen und eine echte Partizipation ermöglichen? Über diese Fragen wollen wir uns heute austauschen. 

Dieser Weg – das sage ich ganz offen – ist für die Mehrheitsgesellschaft auch ein schmerzhafter Prozess. Und da gibt es durchaus Parallelen zur Entwicklung der Erinnerungskultur zur Shoa. 

Ich möchte dazu auf eine Studie von Prof. Julia Bernstein verweisen. Sie ist Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Science. 2018 hat sie im Auftrag des Bundestags die Studie „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus“ vorgelegt. 

Und sie stellte fest, ich zitiere: „Bis zu diesem Zeitpunkt wurde nur über, aber nie mit Juden gesprochen. Was dieses Thema angeht, galten Juden als übersensibel und nicht objektiv genug.“ 

Ja, natürlich sind Opfer sensibel. Verständlicherweise manchmal vielleicht auch übersensibel. Aber ist das ein Grund, ihre Perspektive zu ignorieren, ihnen nicht zuzuhören? Selbstverständlich nicht. 

Und wie sieht es mit der Übersensibilität der Mehrheitsgesellschaft aus? Frau Prof. Bernstein hat bei ihren Studierenden oft erkannt, dass diese nicht wahrhaben wollten, dass ihre Vorfahren an den Verbrechen mitschuldig waren. Ich zitiere: „Weil das Thema emotional nahegeht, wird es tot geschwiegen“. 

Dabei geht es beim Aufarbeiten und Gedenken nicht um Schulzuweisungen. Es geht darum zu erkennen: Die Täter kamen und kommen aus unserer Mitte, sie sind vielleicht sogar Nachbarn, Kolleginnen oder Familienmitglieder.  

Warum war Mölln für unsere Gesellschaft eine solche Zäsur?

Schon vorher hatte es in Deutschland Anschläge und Attacken gegen Ausländer gegeben. 

Aber Mölln war der erste rassistische Anschlag im wiedervereinten Deutschland, bei dem Menschen starben – und er fand im Westen statt. 

Wir Westdeutschen mussten uns von der – zugegeben bequemen – Erzählung lösen, dass rassistische Gewalt nur von demokratieunerfahreneren Ostdeutschen verübt wurde. 

Wir mussten anerkennen: Ja, auch in Schleswig-Holstein sind die Täter mitten unter uns. Und wir haben rechtsextremistischen Aktivitäten zu lange zugesehen. 

Deshalb gehört es auch zur Weiterentwicklung der Erinnerungskultur, dass wir klar benennen, was falsch gemacht wurde. 

Neben der fehlenden Opferperspektive war das auch der fehlende Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. 

Der Brandanschlag in Mölln war nicht nur ein Brandanschlag, er war ein rassistischer Mord. Rassismus – auch im Alltag – muss immer klar als solcher benannt und verurteilt werden. Nur so können wir ihm wirksam entgegentreten. 

Prof. Bernstein versucht bei ihren Studierenden, so sagt sie, „die Kommunikation vorsichtig zu öffnen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der Vertrauen auf- und Fassaden abgebaut werden können.“ 

Meine Damen und Herren, genau diese Atmosphäre des Vertrauens – in beide Richtungen – möchten wir auch heute schaffen. Und nicht nur heute, sie soll unser gesamtes Zusammenleben prägen, in den Schulen, in der Wissenschaft, an allen Orten, an denen Menschen zusammenkommen. 

Zuversichtlich stimmt mich, dass sich in den letzten 30 Jahren vieles verändert hat. 

Aus heutiger Perspektive ist die Debatte von 1992 teils nicht mehr nachvollziehbar – weder vom Inhalt noch von der Tonalität. 

Wir haben gelernt – und wir werden weiter lernen. 

Unsere Schulen spielen dabei eine außerordentlich wichtige Rolle. 

Als Bildungsministerin werbe ich stark dafür, dass Schülerinnen und Schüler erkennen und erfahren lernen, wie schützenswert und kostbar unsere offene, plurale und tolerante Gesellschaft ist. 

Demokratie muss täglich neu gelernt und auch verteidigt werden. Demokratie lernen können Kinder und Jugendliche nur in einer demokratischen Schule, die Partizipation fördert und in der Selbstwirksamkeit eingeübt wird.

 Bei aller Offenheit für die Argumentation und die Beachtung anderer Meinungen muss aber auch klar sein: Es gibt in unserer Demokratie unverhandelbare Positionen. 

Das gilt für das Demokratieprinzip selbst, für die Achtung der Menschenwürde und die Freiheit der individuellen Lebensgestaltung. Es gilt zugleich für den Schutz von Gruppen und Einzelpersonen vor Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus.

Und das bedeutet ganz konkret: Bei Äußerungen gegen Minderheiten müssen die Interventionen so klar und verbindlich erfolgen, dass Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus in der Schule keinen Platz haben. 

Auch hier brauchen wir einen Perspektivwechsel. Von Anfang an müssen wir auf die Opfer und ihre Angehörigen hören, achtsam sein und ihnen mehr öffentlichen Raum für ihr Gedenken ermöglichen. 

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ganz aktuell auf die Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdischen Leben hinweisen, die uns auch wichtige Impulse für die Gedenk- und Erinnerungsarbeit insgesamt liefern kann. 

Die Betroffenenperspektive nimmt darin eine besondere Rolle ein. Ich zitiere aus dem gerade veröffentlichten Strategiepapier: „Übergeordnete Ziele sind die Schaffung von Empathie für Betroffene in Geschichte und Gegenwart, die angemessene Vertretung ihrer Belange sowie echte Inklusion und Partizipation im Sinne einer Überwindung der Trennung in jüdische und nicht jüdische Mitglieder der Gesellschaft.“ 

Meine Damen und Herren, die Überwindung von gesellschaftlichen Trennlinien ist in jeder Hinsicht ein wichtiges Ziel.  

Erinnerungskultur heute bezieht sich nicht nur auf den Nationalsozialismus, sondern auch auf die deutsch-deutsche Geschichte, Terrorismus von links und rechts, den Umgang mit Rassismus und Antisemitismus. 

Zeitzeugen helfen dabei, diese Trennlinien zu überwinden. Deshalb ist Zeitzeugenarbeit an Schulen auch so wichtig. Und ich danke allen Lehrkräften sowie den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für ihr wertvolles Engagement. 

Als Kulturministerin werbe ich dafür, dass sich unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur öffnet und andere, vielleicht zeitgemäßere Formen und Ausdrucksweisen findet. 

Gerade junge Leute möchten ihr solidarisches Gedenken für die Opfer fremdenfeindlicher Gewalt zum Ausdruck bringen. Sie finden sich in den angebotenen ritualisierten Formen oft nicht wieder. 

Als Wissenschaftsministerin werbe ich entschieden dafür, dass wir uns - noch stärker als das bisher geschehen ist - mit dem Phänomen der Xenophobie in unserer Gesellschaft befassen. 

Wie und warum können Ressentiments und Vorurteile überhaupt entstehen? Warum greifen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus um sich? Warum sind unsere westlichen Gesellschaften im 21. Jahrhundert anfällig für Verschwörungstheorien, die doch nichts anderes im Schilde führen, als ausgesuchte Minderheiten auf völlig irrationale, aber dennoch geschickte Weise als verantwortlich für irgendein Übel zu erklären. 

Und auch in der Wissenschaft gilt: die Forschung aus der Opferperspektive ist bisher zu kurz gekommen. Das müssen wir ändern. 

Als politischer Mensch werbe ich dafür, dass wir es ernstnehmen mit unseren Bekenntnissen einer offenen und toleranten Gesellschaft. 

Es gibt kein Motiv, das Gewalt, Zerstörung oder gar Mord rechtfertigen könnte. 

Politisch motivierte Gewalttaten zielen aber im Kern auf unser Zusammenleben, auf unseren gesellschaftlichen und menschlichen Zusammenhalt, unsere Demokratie und unsere pluralen Lebensformen. Hier steht nichts weniger als unsere Freiheit auf dem Spiel. 

Wir müssen unsere freiheitliche Demokratie und unsere offene Gesellschaft wehrhaft verteidigen. 

Das sind wir unseren Kindern schuldig. 

Das sind wir den Toten, den Opfern und ihren Familien von Mölln schuldig: 

Bahide Arslan,

Yeliz Arslan,

Ayşe Yılmaz.

 

Ihre Namen erzählen eine Geschichte, die wir nicht vergessen dürfen, der wir verpflichtet sind."

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